Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 21. November 2005, Heft 24

Das Oberligadorf

von Peter Drescher

Vorsommer 1963: Unsere fußballverrückte Jungenschar, Kinder von Grubenarbeitern, Markscheidern, Brikettierern und Schlossern, krakeelte beim Oberligapunktspiel gegen Vorwärts Berlin in der riesigen Glück-auf-Kampfbahn lauthals herum. Der lange Schrottke aus der Thälmannstraße entrollte ein Plakat und versuchte es, von uns allen tatkräftig unterstützt, an die Barriere zu pinnen. Wir, verzagt und wütend zugleich, hatten den Text höchstselbst entworfen und das Transparent in einem zerfallenen Schuppen hinter der Kippe gebaut.
Beinahe wäre es uns gelungen, das Schild mit der Aufschrift Unser Fußball wurde in Brieske geboren und soll nicht in der Bezirksstadt sterben zu befestigen. Beinahe. Der alte Paule Lehmann mit mächtiger gelber Ordnerbinde um den dünnen Arm gewurstelt, verfolgte unser Treiben mit scharfen Blicken und schnaufte, bevor er Verstärkung holte, in einer Mischung aus Aufgeblasenheit, Ängstlichkeit und Sympathie bokkig auf. Als dann der dicke Gehard, auf dem Sportplatz eine Institution, ansonsten ein eher unauffälliger Kohlepresser in Fabrik I, mit zwei geschniegelten Herren im Wettermantel zu uns stieß, war die Luft raus. Das Plakat wurde entfernt, wir mehr oder weniger deutlich verwarnt. Anpfiff – als wäre nichts geschehen.
Noch um 1900 breitete sich in der dünnbesiedelten Südbrandenburger Ecke weites Grasland aus, das nur von dürren Wäldchen und idyllischen Teichen unterbrochen wurde. Doch plötzlich tat sich was in diesem Winkel, Braunkohlengruben wurden erschlossen, eine Werkssiedlung erbaut. Die ist heute als architektonisch und städtebaulich interessante Gartenstadt Marga bekannt, präsentierte sich jedoch in der »Goldgräberzeit« mehr als schlicht. Die ersten Arbeiter, angeworben aus allen Himmelsrichtungen, wohnten in Baracken, den »Ledigenheimen«. Was machten junge Männer in dieser Einöde, keine Kneipe, keine Frauen in Sicht? Sie spielten Fußball! Und siehe da – die ersten Schritte des frischgebackenen SV Marga, der später als »Schalke des Ostens« bekannt werden sollte, gelangen ausgezeichnet. Der Fußballverein wurde geliebter Bestandteil in der geschundenen Bergbaulandschaft, die Spieler waren Kumpel unter Kumpeln.
Schon 1923 bestanden zwei Männer-, zwei Jugend- und zwei Schülermannschaften. 1932/33 wurde Sturm Marga ostdeutscher Meister im Arbeitersport. Es standen Spiele um die Bundesmeisterschaft gegen Leipzig und Hamburg an. Doch über Nacht wurde der Arbeitersport verboten. Sturm Marga wurde in die niedrigste Spielklasse verbannt, kickte jetzt gegen Dorftruppen aus der Umgebung.
Aber Marga/Brieske gab nicht auf, kraxelte bis in die oberste Klasse, Gauliga genannt. Namhafte Mannschaften liefen jetzt auf den Platz an der Badeanstalt auf. Und wenn dann die »feinen Großstädter« – die von Hertha BSC, Tennis Borussia oder Babelsberg O3 – die nahen, dunklen rauchausstoßenden Schornsteine sahen, wenn sie sich von den düster reckenden Brikettfabriken bedrängt fühlten, wenn sie die Kampfkraft der »Knappen« und den großen Enthusiasmus der Zuschauer erlebten, ja dann … Nicht selten fuhren Clubs, die zu den besten Deutschlands zählten, mit gesalzenen Niederlagen nach Hause.
Der schwere Neuanfang nach 1945: Besessene der ersten Stunde gründeten unter sowjetischer Aufsicht eine »Vereinigung für Sport, Chor, Tanz und Laienspiel«, aus der später die »Betriebssportgemeinschaft (BSG) Aktivist« hervorging. Es begann eine erfolgreiche Fußballzeit im Kohlenpott. Im Kreise von Mannschaften aus Leipzig, Dresden, Erfurt oder Berlin schlug sich das »kleinste Oberligadorf der DDR« dreizehn Jahre lang mehr als wacker. Und zur Eröffnung der neuen Arena, der Glück-auf-Kampfbahn (sie wurde in den Neunzigern abgerissen, hier erstreckt sich jetzt eines dieser adretten, mit hübschen Häusern bestückten Wohngebiete), wurde kein Geringerer – so hat man damals ehrlichen Herzens gesagt – als Torpedo Moskau empfangen. Dreißigtausend Zuschauer wurden gezählt. Brieske glich mit seinen dreitausend Einwohnern einem Tollhaus. Menschentrauben, Volksfestcharakter, Markt und Schulhof, riesige Parkplätze. Fahrräder, Fahrräder. Ich lauerte auf dem damals noch bestehenden Bahnhof auf die Züge aus Richtung Cottbus und Ruhland, verkaufte Hunderte Programme, machte das Geschäft meines Lebens, denn pro verkauftes Programm erhielt ich einen Pfennig.
1956 schrammte der SC Aktivist hauchdünn am Landesmeistertitel vorbei. Weder das Sondertraining auf dem alten Schlackeplatz hinterm Werk (man brauchte an solchen Tagen nur halbtags zu arbeiten) noch die Zuteilung des »Kumpeltod« genannten billigen Bergmannsschnapses hatten geholfen, auch nicht die Extralebensmittelkarte. Auf einmal Unruhe und Empörung in Brieske: »Von oben« war angeordnet worden, den SC Aktivist Brieske/Senftenberg nach Cottbus zu verlegen. Vordergründig redet man von Leistungssteigerung durch Zentralisierung. In Wirklichkeit ging es um anderes: Die Chefs in der Bezirksstadt wollten mit Sportlern und Sportvereinen brillieren.
Die »Knappen« aus dem Pott regten sich – aber anders als erwartet. Denn es existierte noch eine Sportgemeinschaft, die urplötzlich in den Rang der »Ersten« erhoben wurde und sich von ihrem Image, eine »Hellbiertruppe« zu sein, löste. Bald stellten sich Erfolge ein, nahezu ununterbrochen kletterte man die Aufstiegsleiter empor. Es kam sogar zu Liga-Spielen gegen die »Abtrünnigen« aus Cottbus, die in neuer Umgebung nicht recht Fuß fassen und erst viel später gelegentlich Oberligaluft schnupperten. Dennoch: Die großen Fußballzeiten sind ein für alle Mal vorbei. Glück auf Brieske/Senftenberg fristet heute in der sechsten Spielklasse ein kümmerliches Dasein. Auch vom Kohlenpott ist nichts mehr geblieben. Und die Arbeitslosenquote beträgt 27 Prozent. Da haben sehr viele Leute sehr viel Zeit und können sehr oft Baden gehen. In den einstigen Grubenteichen, aus denen prächtige Seen entstanden sind.