Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 24. Oktober 2005, Heft 22

Zeugnis ablegen

von Waltraud Jähnichen

Die Schriftstellerin Slavenka Drakulic ist eine mutige Frau. Würde sie in ihrem Heimatland Kroatien leben, wäre sie wohl vielen Anfeindungen, wenn nicht Schlimmerem ausgesetzt – wie die Familie von Milan Levar, der am 28. August 2000 als »Verräter« ermordet wurde. »Er wollte nicht, daß der neue Staat Kroatien auf Kriegsverbrechen errichtet wird.« Levar hatte in Den Haag im Prozeß gegen die Gospic-Gruppe über die Liquidierung serbischer Zivilisten ausgesagt. Noch heute, zehn Jahre nach dem Ende des Krieges in Kroatien, steht seine Familie unter Polizeischutz, die Leute sprechen nicht mit seiner Frau, die Nachbarkinder spielen nicht mit seinem Sohn, er wird als Tschetnik-Bastard beschimpft.
Slavenka Drakukulic tut etwas Ungewöhnliches: Sie läßt als Kroatin ihre Nationalität außen vor und bemüht sich um eine objektive Sicht dieses entsetzlichen, bis heute unverstehbaren Krieges auf dem Balkan. Sie weist nicht einer Seite die Schuld zu, in ihrem Buch Keiner war dabei zeigt sie, wie jede Gruppe Schuld auf sich lud: Kroaten, Serben, Muslime, Albaner. Zuvor hatte sie fünf Monate lang in Den Haag die Prozesse vor dem Internationalen Tribunal verfolgt.
Die Autorin, Jahrgang ‘49, hat verschiedene Bücher veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt wurden: belletristische Prosa – unter anderem Marmorhaut und Das Liebesopfer – sowie Essays, aber auch Reportagen über den Alltag des Sozialismus im ehemaligen Jugoslawien, darunter: Wie wir den Kommunismus überstanden – und trotzdem lachten.
Die Welt schreckte auf, als sie in ihrem Roman Als gäbe es mich nicht schonungslos über die Massenvergewaltigungen muslimischer Frauen schrieb. Die Wahrheit über ihr unsagbares Leid zu verbreiten, war für sie eine Form, ihnen Gerechtigkeit widerfahren, sie wissen zu lassen, daß sie nicht vergessen sind. Über die Täter zu schreiben, wäre für sie eine Aufwertung von Kriegsverbrechern und Mördern.
Doch dann beschäftigte sie mehr und mehr die Frage: Wie konnten so viele Menschen zu Monstern werden, sie waren doch einmal wie du und ich, Familienväter, lebenshungrige Burschen, gute Nachbarn, Freunde. Es gab viele Gegenden in Jugoslawien, wo Serben, Kroaten, Muslime über Jahrzehnte zusammenlebten, oft miteinander durch Heirat verwandt. Die Autorin nimmt sich nicht aus: Wie hätte ich mich unter den gegebenen Umständen verhalten?
In Den Haag bemüht sich Slavenka Drakulic als genaue Beobachterin hinter die Fassaden der Angeklagten zu schauen, ihre bisherigen Lebenswege nachzuvollziehen. Dadurch wird das Buch nicht zu einer Aneinanderreihung von Fakten, sondern erzählt von Schicksalen, die tief berühren. Aus vielen Details setzt sie sich ein äußeres und inneres Bild derer zusammen, die dort auf ihr Urteil warten. Sie ist überrascht und auch erschreckt, wie normal sie aussehen. Die meisten wirken weder bedrohlich noch gewalttätig. Die Verhandlungen dauern schon viele Monate, und sie begreifen offensichtlich nicht, daß es darin um Tatsachen und nicht um Abstraktionen geht.
Die Autorin ist zugegen, als die ersten Männer wegen Vergewaltigung verurteilt werden. Es sind drei bosnische Serben aus Foca. Die Gegenüberstellung mit ihren Opfern läßt sie gleichgültig, während Slavenka Drakulic das lautlose Schluchzen einer Mutter wegen ihrer geschändeten Tochter lange nicht vergessen kann. Die Freiheitsstrafen sind hoch: 28, zwanzig und zwölf Jahre. Der erste Angeklagte beugt noch seinen Kopf wie unter einem Schlag; der zweite zuckt mit keiner Wimper; der dritte bleibt regungslos. Wenn überhaupt, dann waren die drei betroffen von dem »Unrecht«, das ihnen geschah! Slavenka Draculic versucht immer, die Täter in ihrer Gesamtpersönlichkeit zu erfassen; sie differenziert, sie unterstellt nie. Das gibt ihren Darstellungen Authentizität. Immer hofft sie, die Angeklagten seien irgendwie »abartig«, aber nur in einem einzigen Fall bescheinigen die Ärzte pathologische Gründe. Es handelt sich um Goran Jelisic, 23 Jahre, ein passionierter Angler, gut aussehend, nett, beliebt, hilfsbereit; er gab seinen muslimischen Freunden sogar Geld, daß sie aus Serbien fliehen konnten, einem anderen rettete er das Leben, indem er eine lebensnotwendige Operation bezahlte. Was, fragt sich die Autorin, geschah in seinem Kopf, als er mit dem Töten anfing?
Erschütternd auch die Geschichte von Drazen Erdemovic, Sohn einer Kroatin und eines Serben, der an dem Massaker in Srebrenica teilnehmen mußte. Zwischen dem 13. und 19. Juli 1995 wurden dort mehr als 7000 Muslime umgebracht und 30000 Menschen vertrieben. Armeegeneral Radislav Krstic bekam dafür 46 Jahre Gefängnis.
Drazen Erdemovic war zu dieser Zeit schon seit vier Jahren Soldat; aber das konnte er nicht, Gefangene und Zivilisten einfach so zu liquidieren, ohne Prozeß, ohne Schuldbeweise. Er weigerte sich standhaft zweimal, danach verließ ihn der Mut, man hätte auch ihn erschossen. Später sah er auf die Uhr. In fünfzehn Minuten hatten sie sechzig Menschen getötet. Aber das war noch lange nicht das Ende. Stunde um Stunde wurden neue Opfer herbeigebracht.
Ein alter Mann rief: »Wir haben alle zusammengelebt … Was ist uns einfachen Menschen geschehen?« Auch Drazen fragt sich das, er wußte, der Mann war nur deshalb schuldig, weil er die falsche Nationalität hatte. Und Drazen wußte: Dieser Tag würde sein Fluch sein, er würde ihn nie im Leben vergessen.
In Den Haag begegnete Slavenka Drakulic auch Milosevic, dem Mann, der jetzt in Serbien verhaßt ist und früher sehr beliebt war – schließlich gewann er drei Mal demokratische Wahlen. Aber er konnte von der Macht nicht lassen. Wie seine Frau Mira Markovic. Und dafür waren beide zu allen Verbrechen bereit. Die Autorin versucht ausführlich, das Ehepaar in zwei hoch interessanten psychologischen Studien zu charakterisieren. Sie bezieht in das Versagen der Politiker auch den kroatischen Ex-Präsidenten Tudjman ein, den sie für einen verkappten Faschisten hält. Er hatte im eigenen Land Prozesse gegen Täter verhindert und auch mit Den Haag kaum kooperiert.
Doch der Autorin geht es letztlich um das Verhalten des einzelnen, um die Selbstbefragung: Was wäre wenn? Und darum, daß »wir normalen Menschen den Krieg ermöglicht haben und nicht irgendwelche Irren«.

Slavenka Drakulic: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht, Paul Zsolnay Verlag Wien 2005, 195 Seiten, 17,90 Euro