Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 10. Oktober 2005, Heft 21

Schröder Schröderator

von Wolfgang Sabath

Was war das eigentlich, was uns da in den vergangenen Wochen vorgeführt wurde? Eine staatlich subventionierte Schlingensief-Inszenierung? Eine von der Titanic organisierte Politikerperformance? Eine heimlich vom Bundeskanzleramt organisiertes Happening, um die Belastbarkeit »des Souveräns«, nämlich die unsere, ich lach mich tot, zu testen? Vielleicht von jedem etwas.
Begonnen hatte eigentlich alles erst an dem Abend der Wahl, als wir dachten, nun hätten wir endlich alles überstanden; doch der bisherige Bundeskanzler Gerhard Schröder fand im Fernsehen plötzlich zu sich selbst und führte den Schröderator auf. Im nachhinein merkte er dazu süffisant an, er sei an diesem Abend »suboptimal« gewesen. Von wegen, so viel Schröder war noch nie. Dem Leserbriefschreiber einer Tageszeitung fiel Der Hase im Rausch ein …
Nachdem uns alle Parteien zuvor wochenlang in Fußgängerzonen genervt hatten, und nachdem sie sich durch die Bank von ihren Werbeagenturen hatten überreden lassen, den Wahlkampf allseitig zu infantilisieren und infolgedessen auch Wahlplakate in Schlüpferrosa, Kirchengelb und Babymarineblau aufzulegen, die sprächen uns besonders an, nachdem wir also alles das hinter uns hatten und – souverän, wie wir nun einmal sind – sogar, wieder mal, zur Wahl gegangen waren, war noch lange nicht Schluß; die Vorstellung ging weiter.
Schuld daran waren natürlich wir. Egal, ob oder was wir gewählt hatten: Wir hatten falsch gehandelt. Die Parteien waren des unentschiedenen Ergebnisses wegen unzufrieden mit uns. Außer der Linkspartei. Die war sehr zufrieden, mit uns und mit sich. Sie war sogar so sehr zufrieden, daß sie sich umgehend in eine der unter Linken seit Menschengedenken so beliebten innerparteilichen Personaldebatten begab. Das war insofern nicht problematisch, als ihr bei den Kanzlersuchspielen ohnehin nur eine Komparsenrolle zugedacht war, und auch die war eigentlich verzichtbar.
Als einige disziplinungewohnte neue Abgeordnete laut darüber nachdachten, ob sie vielleicht im Fall der Fälle für Schröder votieren sollten, waren die Fraktionsspitzen ganz schnell dabei, an eine bewährte Art Fraktionsdisziplin zu erinnern und so für die betroffenen Ausderreihetänzer das Prinzip, demzufolge Abgeordnete nicht einer Partei, sondern nur ihrem Gewissen verpflichtet sind, kurz mal außer Kraft zu setzen.
Schröders Schröderator-Auftritt war denn auch so ziemlich das Peinlichste, was deutsches Fernsehen im vergangenen Jahrzehnt vorzuführen hatte. Das Allerpeinlichste daran: Angesichts des politrülpsenden deutschen Bundeskanzlers Kanzlers Dr. hc. Gerhard Schröder empfand unsereins plötzlich sogar Sympathien für seine Herausforderin. Kann es etwas Peinlicheres geben?
Doch wer nun gedacht hatte, das alles sei in den darauffolgenden Wochen nicht zu überbieten gewesen, sah sich getäuscht. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß es zwar nur sehr, sehr wenige SPD-Mitglieder und nur wenige SPD-Politiker gegeben haben wird, die nicht ins Fremdschämen verfielen, als sie ihren Genossen Gerhard sich derart flapsig gebärden sahen, doch was geschah? Es fand sich unter den SPD-Politikern nicht einer, nicht einer!, der sich offen vom Auftritt des Nichtwahlgewinners Schröder distanzierte. Und eine auch nicht. Macht vor Anstand, hieß die Devise.
Natürlich war von den Münteferingern in dieser Partei schwerlich etwas anderes zu erwarten gewesen. Aber die Stieglers und die Schreiners und Andrea Nahles und SPD-Anstandswauwau Wolfgang Thierse, Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, der immer zur Stelle ist, wenn sich andere »schlecht benehmen« – allesamt verharrten in Treue fest. Und auch solche Nichtfunktionäre wie zum Beispiel der bekannte Graphiker und bekennende SPD-Unterstützer Klaus Staeck hingen so an ihrem Gerhard, daß sie ihm seinen ungewöhnlichen TV-Auftritt nachsahen. Und das alles war nun kaum weniger peinlich, als es der eigentliche Anlaß gewesen war.
Der sich daran anschließende Versuch, Schröders Wieder-Inthronisation mittels rechnerischer Tricks herbeizuführen, indem sich der Parteivorsitzende hinstellte und die seit dreißig Jahren akzeptierte schwarze CDU/CSU-Einheit auseinanderdividierte, um somit die SPD-Fraktion zur Kanzlerfraktion zu machen, nahm sich dann nur noch kindisch aus. Und wurde auch nicht lange durchgehalten, die Taktiker hatten sich vertan.
Wochen gingen ins Land, und angesichts des Wahlergebnisses blieb dem Immer-noch-Kanzler nichts anderes übrig, als sich allmählich vom Schröderator wieder zum Schröder zurückzuschrauben. Und da wagten sich auch erste Kritiker aus dem eigenen Lager aus der Deckung und betraten die Bühne. Natürlich achteten sie akkurat darauf, daß der Hauptdarsteller nicht sein Gesicht verlor. Sie gingen (scheinbar) nicht auf die Debatte »Schröder oder Merkel« ein, sondern mahnten die Erörterung von Sachfragen an, die habe Priorität, erst dann solle über die Kanzlerschaft beraten werden. Wer wollte, konnte das nun durchaus als indirekte Kritik an Schröder auffassen. Mußte es aber nicht. Und das war wiederum das Schöne an dieser Kritik in den Farben der SPD.
Wer von den Zuschauern allerdings von seiner Naivität immer noch nicht lassen mochte und nach wie vor erwartete, daß nun der Schröder-Auftritt endlich auch als das thematisiert würde, was er war, nämlich mitnichten nur das Macho-Gehabe eines selbstverliebten Politikers, sondern auch die Beschädigung politischer Kultur, sah sich enttäuscht. Er traute seinen Augen und Ohren nicht, als beispielsweise in einer TV-Szene vorgeführt bekam, wie selbst solche als einigermaßen unabhängig geltenden Geister wie von Dohnany oder Andrea Fischer den Vorgang als Nachklang einer gewissen Wahlkampfüberhitzung klassifizierten und großmütig Absolution erteilten. Altbundespräsident von Weizsäcker saß dabei und lächelte. Selbst als die neugewählte Linkspartei-Abgeordnete Luc Jochimsen, nun wahrlich in keinster Weise angemerkelt, einflocht, man möge sich doch bitte nur einmal vorstellen, was in Presse und Gesellschaft abgegangen wäre, wenn sich Schröders Herausforderin auch nur andeutungsweise so danebenbenommen hätte, mochten ihr die anderen Diskutanten zwar nicht widersprechen, aber von ihrer Nachsicht ließen sie nicht ab. Wahlkampf eben, ein Nachklang. Das müsse man nicht so ernstnehmen. Ja, wenn die Sache so ist …
Und irgendwann, wir haben inzwischen natürlich längst wieder einen Kanzler oder eine Kanzlerin, werden sie wieder auf alle zusammensitzen und über Demokratiedefizite debattieren und auch darüber, daß sich im Lande Gegner der Demokratie breitmachen – das sind, nur der Klarheit wegen, natürlich immer die anderen …
Das sollen wir dann ernstnehmen, oder wie?

PS. Das Copyright für »Schröderator« gebührt nach meinen (sicher unvollständigen) Kenntnissen der Warschauer Zeitschrift NIE.