Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 10. Oktober 2005, Heft 21

Noch eine Wahl

von Henryk Skura, Warschau

Wenigstens eine Parallele zum Wahlausgang im benachbarten Deutschland haben die Parlamentswahlen in Polen aufzuweisen. Auch hier rieb sich am Wahlabend jemand verwundert die Augen und wußte nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Frühzeitig und lange Zeit unbedrängt als künftiger Premier vorausgesagt, hatte er spätestens seit Frühsommer selbst diese Weissagung für pure Gewißheit gehalten. Nun wird Jan Maria Rokita, eines der beiden Aushängeschilder der Bürgerplattform (PO), mit einer vergleichsweise bescheidenden Rolle vorliebnehmen müssen.
Damit jedoch endet die Parallele zu bundesrepublikanischen Verhältnissen. Denn die PO ist nur zweiter Sieger (24,1 Prozent) und hat den Posten des Regierungschefs bereitwillig-ungläubig dem künftigen Koalitionspartner überlassen müssen. Die Spitzenposition der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS – 26,7 Prozent) ist für das Wahlvolk die wirkliche Überraschung gewesen. Da aber beide sich konservativ verstehenden Gruppierungen frühzeitig signalisiert haben, daß eine Koalition zwischen diesen Gruppierungen zweckmäßig wäre, wird auch diese kleine Störung im Protokoll am schnellen Zustandekommen der künftigen Regierung nichts mehr ändern. Zu sehr reizt beide die Übernahme der Regierungsgewalten.
Die anderen ins Parlament einziehenden Parteien dürfen sich zunächst einmal freuen, daß den künftigen Koalitionären die anvisierte und in Umfragen bestätigte Zweidrittelmehrheit trotz deutlichen Übergewichts vorenthalten blieb. Außerdem dürfte die noch ausstehende Wahl des Staatspräsidenten, der in maximal zwei Wahlgängen durch das mittlerweile müde gewordene Wahlvolk ab 9. Oktober direkt bestimmt wird, zusätzlichen Sand ins Koalitionsgetriebe streuen. Denn hier steuert alles mittlerweile auf eine große Schlacht zwischen dem PO-Kandidaten Donald Tusk und dem PiS-Vertreter Lech Kaczyński hinaus.
Der PO-Mann allerdings kann den Fehler seines Parteikollegen Rokita nicht mehr berichtigen, der ihn schon beizeiten landesweit und übergroß als Präsident hatte plakatieren lassen. Sein PiS-Konkurrent zog dieser Woche keckerweise nach und präsentiert sich nunmehr als Präsident einer neuen IV. Republik. Doch auch inhaltlich stehen beide Gruppierungen oft genug auf unterschiedliche Positionen – etwa in der Staats- oder EU-Frage. Während PiS die Autorität des Staates radikal stärken möchte, wollen PO-Vertreter Polens Zukunft durch die Umsetzung einer radikal-marktwirtschaftlichen Vision sichern – mit einem einheitlichen Steuersatz von fünfzehnProzent für alles und jeden.
Vier weitere Parteien ziehen mit ihren Listen ins Parlament ein. Zweien ist die Freude über den Erfolg durchaus ins Gesicht geschrieben. Beide kommen aus einem politischen Lager – dem bauernpolitischen –, dem ansonsten der politische Wind kräftig ins Gesicht bläst. Insgesamt 36 Prozent der Stimmen auf dem Lande haben aber für beide gereicht. Andrzej Leppers Samoobrona (Selbstverteidigung – 11,4 Prozent) – häufig in eine nichtssagende populistische Ecke gestellt – versteht sich als Interessenvertreter vieler der im »Transformationsprozeß« ins soziale Abseits geratenen Menschen und trifft vor allem den Nerv derjenigen, die in den unzähligen, vom Markt bereits abgehängten, Kleinstädten Polens Aussicht auf Besserung nicht einmal mehr herbeizureden wagen. Die Kritik an unhaltbaren gesellschaftlichen Zuständen geht einher mit einem bewußten, oft symbolhaft-komischen Festhalten an Tradition und Bindung zum Vaterlande. Die Bauernpartei (PSL – sieben Prozent), eine der ältesten und mitgliederstärksten Parteien im Lande, orientiert sich fast ausschließlich auf das Milieu der Landwirte und ist wieder belohnt worden. Wenn sich die PiS-PO-Koalition an die eine Zweidrittelmehrheit voraussetzende Verfassungsänderung in Richtung IV. Republik machen sollte, könnte sie zum Zünglein an der Waage werden. Denn Leppers Preis dürfte sehr viel höher sein.
Nicht zufrieden wird Roman Giertych mit dem Abschneiden der von ihm angeführten Liga der polnischen Familien (LPR – acht Prozent) sein. Noch vor einem halben Jahr sah er sich als unverzichtbarer Bestandteil einer Rechtskoalition und muß nun zusehen, wie er einfach rechts liegen gelassen wird. Gefährlich indes könnte werden, daß er nun ungeniert seinen Kurs der drastischen Verjüngung und Radikalisierung der Partei fortsetzen kann. An die Stelle der alten, oft genug skurril wirkenden Ideologen und Dmowski-Verehrer werden junge, geschulte Kämpfer treten, die bereits jetzt das national-katholische Programm der Partei als durchzusetzendes Leitbild für die gesamte Gesellschaft deuten.
Zwei große Verlierer hat die Wahl zu verzeichnen. An erster Stelle die Demokratische Linksallianz (SLD – 11,3 Prozent), die zahlenmäßig vor das Jahr 1991 zurückfällt und der politischen Linken im Lande faktisch einen Scherbenhaufen hinterläßt. In den vier Jahren Regierungszeit verlor sie sage und schreibe vier Fünftel ihrer Wähler. Ein Aderlaß ohnegleichen in Polens jüngster, an dramatischen Wendungen wahrlich nicht armer parlamentarischer Geschichte. Traurig stimmt die Tatsache, daß die einst so stolze und bestens organisierte politische Partei Polens im Schatten eines wohl übermächtigen Präsidenten dem seit mindestens zwei Jahren sich abzeichnenden Abwärtstrend nichts entgegenzusetzen wagte. Fast scheint es so, als habe im politischen Himmel jemand um ein schnelles politisches Ende der »Postkommunisten« nachgesucht.
Marek Borowskis abtrünnige Truppe, die Polnische Sozialdemokratie (SdPl – 3,5 Prozent), bleibt zwar draußen, doch könnte der Partei in den kommenden Jahren der Aufstieg gelingen. Sie kommt nämlich als einzige nichtparlamentarische Partei in den Genuß nutzbringender staatlicher Parteienfinanzierung, was auch politisch als Gewinn verbucht werden dürfte.
Der zweite Verlierer ist die Demokratische Partei (PD – 2,5 Prozent), die im Frühjahr aus der typischen »Ethos«-Partei Freiheitsunion (UW) unter Einbeziehung politischer Prominenz aus dem SLD-Lager retortengleich und mit wohlwollendem Verständnis des Präsidenten gebildet worden war. Der von Kwas´niewski im Mai 2004 eingesetzte Premier Marek Belka erklärte bereits im Frühsommer, daß er für die DP ins Rennen gehen werde. Es half nicht viel, und die Demokraten, die nun die liberale Agenda samt und sonders der PO werden überlassen müssen, gehen schweren Zeiten entgegen.
Da aber der wahlberechtigte Bürger in Polen diese Mal mehrheitlich durch Abwesenheit glänzte (Wahlbeteiligung 41 Prozent), ist soziologisch betrachtet von all diesen Ergebnissen nur bedingt etwas zu halten. Die politischen Konsequenzen aber werden handfester und keineswegs bedingter Natur sein.