Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 10. Oktober 2005, Heft 21

Lieber ferner Freund

von Wladimir Wolynski

Den Bericht über Ihre Reise durchs Baltikum (Wolfgang Sabath in Blättchen 20/2005) las ich mit Gewinn. Bei ihren Eindrücken im litauischen Trakai kommen Sie auch auf die Karimäer zu sprechen. Hebräisch heißen sie, die in religiöser Hinsicht allein das alte Testament gelten lassen, qara`im. In Trakai leben, wie Sie schreiben, etwa 65 Angehörige dieser ethnischen Minderheit, in Litauen noch vierhundert. Insgesamt gehören etwa fünftausend Menschen zu dieser Gruppe. Es dürfte in Deutschland schwerlich bekannt sein, daß auch einer der berühmten Heerführer des Zweiten Weltkriegs ein qara`im war. Es handelt sich um den Sohn des in Odessa ansässigen qara`im Jankel Malinowski. Dessen Sohn Ruben gehörte zu den Jungen, die mit ihren Spielen die Hafenstadt am Schwarzen Meer unsicher machten. Die Eltern trennten sich, und die Mutter zog mit Jankel in das Dorf Sutiski (bei Winniza in der Ukraine), wo sie sich erneut verehelichte. Der Junge kehrte für einige Jahre nach Odessa zurück und schaffte es, als Sechzehnjähriger in das 256. Regiment aufgenommen zu werden, das in den Ersten Weltkrieg zog. Der Familienname Malinowski wurde von seinen nunmehrigen Kriegskameraden akzeptiert, der Vorname nicht. Man nannte ihn und bald auch er sich selber Rodion. Sein im Russischen üblicher Vatersnamen wurde aus Jankelewitsch zu Jakovlewitsch. Er trug nicht den Marschallstab im Tornister, sondern schleppte sich mit dem Maximka, dem russischen Maschinengewehr ab, reihte sich in den Revolutionskriegen in die Rote Arbeiter-und-Bauern-Armee ein, kämpfte später als Freiwilliger auf seiten der Spanischen Republik; Dolores Ibaruri nannte ihn »Bruder«. Er befehligt im Großen Vaterländischen Fronten; 1957 wurde der qara`im Verteidigungsminister der UdSSR. Stillschweigende Voraussetzung, daß von seinen ethnischen Wurzeln nicht mehr die Rede war.
Dabei war Marschall Malinowski nicht der einzige qara`im, dem ein Aufstieg im Sowjetland beschieden. Joseph Grigulevich, ein qara`im aus Litauen, kämpfte ebenfalls auf seiten der Spanischen Republik, wurde in Spanien vom sowjetischen Geheimdienst angeworben und operierte seitdem unter anderem in Mittel- und in Lateinamerika sowie in Europa unter den Namen Arthur, Arturo und Max. In Mexiko war er dabei, als das erste Attentat auf Leo Trotzki mißlang, hatte seine Hände im Spiel, als mexikanische Hafenarbeiter Schiffe sabotieren, die Nazideutschland anlaufen sollten, wurde – man lese und staune – Botschafter Costa Ricas und als Diplomat bei den Regierungen Italiens und Jugoslawiens akkreditiert. Vom Vatikan mit dem Malteser-Kreuz ausgezeichnet (von der UdSSR erhielt er wegen seiner Beteiligung am Attentat auf Trotzki den Orden des Roten Sterns), war er schließlich an einem Versuch beteiligt, Stalins nunmehrigen Lieblingsfeind Tito durch ein Attentat aus dem Weg zu räumen. Erstaunlich, daß er all die mit diesem Lebensweg verbundenen Fährnisse ebenso überlebte wie auch die Jahre, die er danach unter dem Namen Joseph Lawrezki in der UdSSR verbrachte, wo er zahlreiche Bücher und mehr als zweihundert wissenschaftliche Aufsätze veröffentlichte und schließlich Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR sowie der Nationalakademie für Geschichte in Venezuela gewählt wurde.
Ich hoffe, daß diese zum Teil jahrzehntelang gehüteten Geheimnisse über Herkunft und Wirken der beiden qara`im Ihnen willkommen sind und freue mich auf neue Reiseerlebnisse von Ihnen.