Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 10. Oktober 2005, Heft 21

Juchas Nagel

von Uri Avnery, Tel Aviv

Eines Tages verkaufte Jucha, ein volkstümlicher arabischer Held – dem deutschen Eulenspiegel nicht unähnlich – sein Haus. Der Preis, den er verlangte, war lächerlich niedrig, und er hatte nur eine Bedingung: »An einer der Wände steckt ein Nagel, mit dem ich sehr verbunden bin. Den will ich nicht verkaufen.« Der Käufer willigte ein. Wer wird sich schon um einen Nagel scheren?
Nach einigen Tagen kam Jucha zum Haus, ging hinein und hing seinen Mantel an diesen Nagel. Danach brachte er sein Bett und begann, darin zu schlafen. »Der Nagel ist mir so ans Herz gewachsen, daß ich nicht so weit weg von ihm schlafen kann«, erklärte er. Ein anderes Mal brachte er seine Familie mit, um den Nagel zu besuchen und veranstaltete dort eine Party. Am Ende konnte der neue Besitzer dies nicht mehr ertragen und kaufte den Nagel für einen viel höheren Preis, als er vorher für das Haus bezahlt hatte.
Vielleicht kennen die Führer Israels diese Geschichte nicht, ihr Benehmen ähnelt aber sehr Juchas Verhalten. Es begann mit dem Friedensabkommen mit Ägypten (1978). Israel war damit einverstanden, sich aus dem Sinai zurückzuziehen. Zwischen Menahim Begin und Anwar Sadat begann so etwas wie eine Freundschaft. Und dann kam der Nagel. Israel weigerte sich, Taba aufzugeben, ein winziges Stück Land am Golf von Akaba. Die Beziehungen kühlten ab; eine Runde erbitterter Streitigkeiten folgte, und schließlich entschied ein internationaler Schiedsspruch, was von Anfang an klar war: Taba gehört zu Ägypten und wurde schließlich zurückgegeben.
Diese Geschichte wiederholte sich mit dem Libanon. Zuerst entschied die Regierung, einen großen Nagel zu behalten: den »Sicherheitsstreifen«, der einen langen und blutigen Guerillakrieg verursachte. Schließlich waren wir gezwungen, ihn zu verlassen – mit einer militärischen Maßnahme, die wie Flucht aussah – und behielten nur einen kleinen Nagel: die Shaba-Farm. Dies gab der Hisbollah den Vorwand, sich nicht zu entwaffnen und ab und zu je nach Belieben die Grenze aufzuheizen.
Nun haben wir uns aus dem Gazastreifen zurückgezogen und nur einen Nagel in der Wand gelassen: die Synagogen. Das waren – Gott behüte – keine heiligen Gebäude aus der Antike, sie waren nichts anderes als Gebäude, die man vor kurzem zum Beten und für Zusammenkünfte errichtet hatte. Die Armee schlug vor, sie mit allen anderen Häusern zu zerstören, und so hatte dann auch die Regierung entschieden.
Aber nachdem die Farce der »Entwurzelung der Siedler« abgeschlossen war, nachdem der letzte Heuler seine Tränen an der Uniform eines Polizisten vor einer TV-Kamera vergossen hatte, nachdem der letzte Armeeoffizier einen nationalistischen Rowdy – entsprechend der Order – umarmt hatte, erinnerten sich die Siedlungsrabbiner auf einmal, daß Synagogen geheiligte Gebäude sind. Gott wurde politisch instrumentalisiert.
Die Likud-Minister änderten mit Lichtgeschwindigkeit ihre Meinung und entschieden, daß es verboten sei, die Synagogen zu zerstören. Die Regierung änderte im letzten Augenblick ihre Position, ohne die palästinensische Führung zu informieren und ohne sich mit ihr darüber zu beraten. Sie informierte nicht einmal den Obersten Gerichtshof, der bereits entschieden hatte, daß die Synagogen zerstört werden könnten.
Dieser Akt brachte die Palästinenser in eine Zwickmühle: Entweder Tausende Soldaten damit beauftragen, leere Gebäude von jetzt an bis in alle Ewigkeit zu schützen oder die aufgeregten Massen diese gehaßten Symbole der Besatzung stürmen zu lassen. Für Sharon war diese Übung ein riesiger Erfolg: Die Welt sah »den aufgehetzten palästinensischen Mob«, der »Gottesdiensthäuser« verbrennt.
Ein anderer Nagel war die Schließung des Rafah-Grenzüberganges. Die kam auch als Überraschung ohne vorherigen Dialog mit den Palästinensern zustande. Da die israelische Regierung behauptete, daß die Besetzung des Gazastreifens beendet und sie jetzt aus der Verantwortung für die dortigen Bewohner entlassen sei, bedeutete das, daß wir eine Grenze zwischen zwei nicht zu Israel gehörenden Territorien, zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, weiterhin geschlossen hielten. Was dann geschah, ähnelte den Ereignissen nach dem Fall der Berliner Mauer: Verwandte, die sich jahrzehntelang nicht gesehen hatten, umarmten sich, Menschenmassen strömten auf die andere Seite, um sich umzusehen und billig einzukaufen und ihren aufgeregten Gefühlen Luft zu machen. Israel hatte noch einmal gewonnen, die Ägypter ihre Unfähigkeit bewiesen, und die palästinensische Behörde gezeigt, daß man sich nicht auf sie verlassen könne.
Hätten die Ägypter mit Gewalt reagiert, hätten sie als Feinde des palästinensischen Volkes dagestanden. Hätten die palästinensischen Polizisten auf ihre eigenen Leute geschossen, wäre ihnen jegliche moralische Autorität abhanden gekommen. Es ist klar, daß keine israelische eiserne Mauer den Gazastreifen vom Sinai abschneiden kann. Die Angelegenheit kann nur durch sensible Verhandlungen geregelt werden.
Nun, nachdem »die Abtrennung« beendet zu sein scheint, kann man ein eindeutiges Urteil fällen: Die ganze Operation war unglaublich dumm. Sie war töricht, weil sie einseitig war. Sie machte Zusammenarbeit unmöglich – abgesehen von der niedrigsten Ebene der Waffenruhe, während der der Rückzug stattfand. Diesen hätte man ausnützen können, um psychologisch und politisch Brücken zwischen beiden Völkern zu bauen. Es hätte die Bevölkerung von Gaza überzeugen können, daß es sich lohnt, im Frieden mit uns zu leben. Es hätte die radikalen Organisationen isoliert, der palästinensischen Führung geholfen und die Sicherheit für die in der Nähe des Gazastreifens liegenden Städte und Dörfer vergrößert. Hätte die gesamte Operation von Anfang an im Geiste des Dialogs zwischen Partnern auf gleicher Augenhöhe stattgefunden, hätte man bindende Abkommen erreichen können – sowohl in der Frage des Grenzübergangs zwischen dem Gazastreifen und Ägypten als auch über die internationale Überwachung, um den Schwarzhandel mit Waffen zu verhindern; sowohl über den Status der Synagogen als auch über die Verbindungen zu Wasser und in der Luft und alles übrige. Aber Sharon wünschte keinen Dialog mit den Palästinensern; denn das wäre – Gott bewahre – ein Präzedenzfall für die Zukunft der Westbank.
Statt dessen verlief alles in einer Atmosphäre des Mißtrauens und der Feindseligkeit. Die israelischen Offiziere und Politiker redeten und benahmen sich weiterhin – ohne Ausnahme – wie Militärgouverneure und gebrauchten die Sprache der Drohung und Arroganz. Ihr Verhalten beweist, daß die Besatzung in Wirklichkeit noch nicht beendet ist – nicht im Gazastreifen und erst recht nicht auf der Westbank.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt.