Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 10. Oktober 2005, Heft 21

Identitäten

von Martin Schirdewan

Christoph Hein, der Präsident des Deutschen PEN-Clubs, hat einen bemerkenswerten Essay veröffentlicht, der unterdessen auch nachgedruckt wurde: Vom unglücklichen Bewusstsein. Die Quintessenz: Der in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg geächtete, doch stets latente Antisemitismus suche sich mit den Ostdeutschen ein neues Objekt. Hein erkennt Argumentationsmuster, mit denen bestimmte Verhaltensweisen wie der Kindsmord, der früher den Juden angedichtet wurde, auf die Ostdeutschen übertragen werden. Hein warnt vor einer verheerenden Tendenz, die er zu erkennen glaubt.
Entfacht durch die Polemiken und Dummheiten einiger Politiker aus konservativen Landen und Lagern durchlief eine Diskussionswelle die Medienlandschaft, deren Facetten von Zustimmung über Empörung bis hin zum Immer-gewußt-haben und dem beliebten Besserwissen reichten. Welche Position die Diskutanten dabei auch immer bezogen, blieb ihnen eines gemeinsam: die Identitätsbildung der Ostdeutschen als Gegenstand einer gesellschaftlichen Debatte. Einer medial geführten Debatte, die nach dem Zustandekommen vermeintlicher ostdeutscher Eigenschaften forschte; oder besser, die vorgibt, danach zu forschen. Und die gleichzeitig zu einer Trennung von Diskutierenden und Diskussionsobjekt führt.
Ich stehe Heins These äußerst kritisch gegenüber, da ich den Antisemitismus durch die Brille der Exponenten der Frankfurter Schule zu erklären gewohnt bin und wesentliche Aspekte dieses Erklärungsmusters in Heins Argumentation nicht vorkommen, ja, überhaupt nicht vorkommen können. Zum Beispiel das Phänomen der »pathischen Projektion«. Es besagt, daß der Antisemit seine eigenen unterdrückten Wünsche und Leidenschaften auf den Juden projiziere, die dieser – jedenfalls aus Sicht des Projizierenden – aufgrund seiner »jüdischen Amoralität« ausleben dürfe, während es dem rechtschaffenden, in christlicher Moral be- und gefangenen »anständigen Bürger« versagt sei. Der Jude wird damit Adressat aller dunklen, menschlichen (und aus moralischer Sicht unmenschlichen) Triebe. Ganz soweit sind wir hierzulande zum Glück nun doch noch nicht.
Weiterhin fehlt den Ostdeutschen die vielleicht wichtigste Voraussetzung, um zum Objekt eines gewandelten Antisemitismus zu werden: eine in Wohlstand lebende Gesellschaft. Das auf die Juden bezogene Klischee ist evident: Sie seien reich, wir seien arm. Da möchte man fast sagen: Gott sei dank geht es vielen Ossis dreckig. Wer beneidet schon arme Schlucker?
Nein, ich denke, die Rolle der Ostdeutschen ist eine andere – allerdings eine ebenso fatale wie die, die Christoph Hein beschreibt. Sie werden zu Sündenböcken für eine ihren Wohlstand verlierende Gesellschaft gemacht. Die ökonomischen Entwicklungen haben die benevolente Hand des Kapitals natürlich schon vor der Einheit, ja schon bevor eine solche Vereinigung auch nur denkbar war, von der Bundesrepublik und anderen ähnlich entwickelten Staaten ziehen lassen. Sogenannte Standorte mit billiger ausbeutbaren Arbeitskräften existierten schließlich schon 1980, 1985 und 1989, wurden seinerzeit aber keineswegs so massiv diskutiert. Die Rezessionsdynamiken, sowohl die ökonomischen als auch die sozialen, entfalteten schon damals und keineswegs erst seit dem Anschluß der DDR an die BRD ihre Wirkung. Doch je stärker diese exponentiell wirkende Dynamik, desto wütender die Reaktionen einer hilflosen Gesellschaft. Der Sündenbock war schnell gefunden: der Osten. Und dieser kostet und kostet und kostet – noch heute.
Die Polemiken gegen Ostdeutsche entspringen weniger einem unbewußt umgelenkten Antisemitismus und eher – hier liegt die Schnittmenge mit der Heinschen Interpretation – einem radikalisierten Wohlstandschauvinismus, der die Bewohner der Ex-DDR für den ökonomischen und sozialen Verfall des guten alten Westens verantwortlich macht. Diese Argumentation wirkt und ist vom Feuilleton bis hin zum Stammtisch weit verbreitet, wie uns nicht zuletzt die Frankfurter Allgemeine gerade wieder einmal lehrte. Eine innere Vereinigung wird es solange nicht geben, wie die einen über die anderen (be-)richten; wie die einen Subjekte der Deutung sind und die anderen deren Objekte bleiben. Im übrigen: Den Ostdeutschen wird eine Identität zugeschrieben, die sie bis zur friedlichen Revolution und den anschließenden politischen Wendeereignissen eher als Last empfanden und deshalb bereit waren abzulegen: in Abgrenzung zu den Westdeutschen ostdeutsch zu sein.
Man kann Christoph Hein nur dankbar sein für den Mut, eine Debatte über den Umgang einiger Eliten des Westens mit dem Osten und über die dahinterliegenden Denk- und Verhaltensmuster angestoßen zu haben. In jedem Fall bietet diese Debatte eine große Chance, nämlich die der Emanzipation des »Objekts« dank einer nachholenden Identitätsbildung fünfzehn Jahre nach der Wende. Es geht um die Frage nach der eigenen Rolle in einer nicht mehr ganz neuen Gesellschaft – selbstbestimmt beantwortet statt wie bisher von außen oktroyiert.
Neulich schrieb jemand im Tagesspiegel anläßlich des einhundertsten Geburtstages von Schaubühne/Weltbühne/Blättchen/Ossietzky, das Blättchen sei verbreitet und ziele auf eine vornehmlich ostdeutsche intellektuelle Leser- und Autorschaft ab. Erstens herzlichen Glückwunsch und zweitens et voilà.