Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 24. Oktober 2005, Heft 22

Alles bleibt wie es war

von Ursula Malinka

Drei Tage vor der Bundestagswahl schrieb Hans-Werner Sinn in der Wirtschaftswoche verhältnismäßig zurückhaltend über solche deutschen Wirtschaftsprobleme wie die mangelnde Investitionstätigkeit und dachte ganz allgemein über die Notwendigkeit von Kosteneinsparungen als Mittel zur Wahrung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nach. In seinem Buch Ist Deutschland noch zu retten? war er da schon deutlicher geworden: Die Löhne seien zu hoch und müßten zur Erhaltung von Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit gesenkt werden.
Am Tag zwei nach der Wahl erklärte der am Ifo-Institut München tätige Professor im ARD-Magazin Plusminus, daß Deutschland endlich davon abgehen müsse, Arbeitslosigkeit zu bezahlen, das gehöre abgeschafft. Dem Mann wäre ja zuzustimmen, wenn statt dessen ordentlich bezahlte Arbeit angeboten würde. Doch darum geht es ihm gerade nicht: Wer von seiner Arbeit nicht leben könne, dem müsse der Staat etwas zuschießen, meint er; Hauptsache, die Löhne würden niedriger. Wie das gehen soll, sagt er allerdings nicht. Denn wenn die Leute kaum etwas verdienen, zahlen sie auch wenig Einkommensteuer – und davon soll der Staat dann die Zuschüsse bezahlen? Hauptsache, den Unternehmen geht es gut. Und vielen von denen geht es wahrlich gut, vielleicht zu gut.
Am ersten Tag nach der Wahl ließ das ARD-Magazin Report Mainz gleich drei konservative Wirtschaftsforscher auftreten und erklären, daß die Reformen gerade erst begonnen hätten und unbedingt weitergehen müßten. Den Bürgern müsse endlich klargemacht werden, daß im Jahr 2030 allenfalls noch eine Rente von vierzig Prozent des durchschnittlichen Nettoverdienstes, also etwas mehr als der Sozialhilfesatz, gezahlt werden könne.
Der neoliberale Konsens zwischen Wirtschaftsforschern, »Wirtschaft«, Parteien und Medien ist nach wie vor stabil. Gebetsmühlenartig werden seit über zwanzig Jahren die immer gleichen Wege zum Abbau der Arbeitslosigkeit besungen, ohne einen Hauch von Selbstkritik noch gar der Idee, die Mittel und Methoden zu überprüfen. Das allein zeigt schon, daß es sich um vorgeschützte Argumentationen zur Beruhigung des deutschen Michels handelt; letztlich geht es um Profit.
Unterstützung kommt aus dem Ausland, beispielsweise von der Neuen Zürcher Zeitung, die mit ihren Schlagzeilen keinen Zweifel an ihrer geistigen Verfassung aufkommen ließ: Enttäuschender Wahltag für die Wirtschaft; Klare Absage an mutige Reformen in Deutschland; Die schlechteste Wahl für Deutschland. »Man kann es wenden, wie man will: Die Tatsache, daß die jetzt entstandene Situation keine wirklich zukunftsfähige Option offen läßt, ist eine Kalamität sondergleichen … Das Volk muß in den Spiegel gucken und sich fragen, was es eigentlich will.« Das Volk also. Es will wieder einmal nicht so, wie es wollen sollte.
Und dann gab es noch den Auftritt des Kanzlers nach seiner siegreichen Niederlage in der Berliner Runde und die Medien, die am nächsten Tage seine Schelte für die Demoskopen wiederkäuten. Letztlich bleibt alles wie gehabt, denn vor drei Jahren hatten wir das alles schon einmal: sowohl die falschen Vorhersagen als auch den knappen Wahlausgang. Nur, daß dieses Mal beide, die sich zum Sieger erklärten, verloren haben.
Die inoffizielle große Koalition, die sich bisher vor allem bei Projekten zusammenfand, die einer Beschädigung der Sozialsysteme dienen – wie die Gesundheitsreform und alle Agenda- und Hartz-Regelungen –, wird nun durch eine reguläre Koalition fortgeführt. Die FDP bleibt in der Opposition, und die Grünen haben sich einzureihen; das könnte ihnen helfen, ihr Profil wieder etwas schärfen. Bleibt die Linkspartei.PDS, die  über den Einzug ins Parlament bitte nicht gleich vergessen möchte, warum sie da ist und wen und was sie da zu vertreten hat. Sonst behält Tucholsky doch noch recht: Die Wahl ist der Rummelplatz des kleinen Mannes …