Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

»Solidarnosc«

von Krzysztof Pilawski, Warschau

Laut einer am 17. August 2005 in der Tageszeitung Rzeczpospolita veröffentlichten Umfrage meinen lediglich ein Viertel der befragten Bürger Polens, ihre Existenzbedingungen hätten sich dank Solidarnosc verbessert. Zu diesem Viertel gehören ausnahmslos alle Mitglieder des Ehrenkomitees, das aus Anlaß des 25. Jahrestages der Augustereignisse 1980 und der Entstehung der Solidarnosc ins Leben gerufen wurde.
An der Spitze des Komitees steht Lech Walesa. Ich bin geneigt, ihn Wladyslaw Gomulka gegenüberzustellen, dem Arbeiter, der Arbeitslosigkeit zur Genüge ausgekostet, dem Kommunisten, der in der Sanacja-Zeit viele Gefängnisse von innen kennengelernt hatte. Weil er den polnischen Weg zum Sozialismus verteidigte, verlor er in den fünfziger Jahren seine persönliche Freiheit. Als er an die Machtspitze zurückkehrte, wurde er durch Millionen von Menschen enthusiastisch begrüßt.
In seiner Regierungszeit vollzog sich der – für die Volksrepublik Polen so typische – Aufstieg Walesas vom Bauernkind zum Facharbeiter eines großen Industriebetriebes. 1970, vierzehn Jahre nach seiner triumphalen Rückkehr, ließ Gomulka allerdings die Waffen auf Arbeiter an der Küste richten. Lech Walesa seinerseits wandte sich gegen die Arbeiter mit dem Balcerowicz-Plan, mit dem ein brutaler Kapitalismus, Massenarbeitslosigkeit, Armut und die massenhafte Verletzung der menschlichen Würde eingeläutet wurden. Lech Walesa ist im Arbeitermilieu unglaubwürdig geworden, um so glaubwürdiger gilt er im Milieu des Kapitals. Sein Ausstieg aus den Solidarnosc-Reihen ist die logische Konsequenz dieser richtungweisenden Wahl. Lech Walesa verließ ähnlich wie seinerzeit Józef Pilsudski die Straßenbahn an der Haltestelle »Unabhängigkeit«.
Gomulka blieb im Unterschied zu Walesa seinen Überzeugungen aus der Jugendzeit treu. Zu den Beratern Wale˛sas gehörten Bronislaw Geremek und Tadeusz Mazowiecki. Ersterer wurde im Milieu radikaler uneigennützig denkender Kommunisten groß, die für Gomulka »Kosmopoliten« und »Nihilisten« waren. 1968 beendeten die Mächtigen der VR Polen für dieses Milieu alle Karriere- und Aufstiegsmöglichkeiten. Gegen diese Repressionen trat die katholische Abgeordnetengruppe Znak auf, zu der Tadeusz Mazowiecki gehörte. Beide Richtungen – ehemalige Kommunisten und streitende Atheisten sowie weltoffene Katholiken – begegneten sich in den siebziger Jahren im Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR). Sie gingen in der sogenannten katholischen Linken auf. 1980 wurde diese zum intellektuellen Hinterland der Solidarnosc. Als dieses Milieu 1989 am Runden Tisch mit den Herrschenden der VR Polen ein neoliberales Gesellschaftsprogramm aushandelte, vollzog es eine gewaltige Kehrtwendung. Während der Feierlichkeiten am 14. August 2005 vor dem historischen Tor 2 der Gdañsker Werft pfiffen die Arbeiter der Werftenstadt Geremek und Mazowiecki aus.
Unter den Solidarnosc-Veteranen, die nach 1989 den Kapitalismus unterstützten und heute Mitglieder des Ehrenkomitees sind, befinden sich Krzysztof Bielecki (der meint, die Kommunisten hätten Polen mehr geschadet als Hitler), Jerzy Buzek und Andrzej Milczanowski.
Auf eine reiche Biografie des Widerstands darf Bogdan Borusiewicz verweisen, einer der wichtigsten Streikführer auf der Leninwerft, Mitverfasser der 21 Solidarnosc-Postulate. In der dritten Republik gehört er zum Establishment und gleich Geremek und Mazowiecki dem Spektrum der Unia Wolnosci (Freiheitsunion) an. Dieses Spektrum hat Polens Gesellschaftssystem nach 1989 am nachhaltigsten bestimmt.
Unter den Komiteemitgliedern darf auch die Gewerkschaftsnomenklatur nicht fehlen – der vormalige und der jetzige Vorsitzende der Gewerkschaft Solidarnosc: Marian Krzaklewski und Janusz Oniadka. Vertreten ist mit Andrzej Wajda auch ein Mann der Kultur, der in seinem Leben einige sehr widerspenstige Filme drehte. Im Kanal gab er dem Warschauer Aufstand eine moralische Legitimierung – den Aufständischen, die in den Abwässerkanälen bis zum Hals in der Scheiße stehend kämpften. Im Gelobten Land – übrigens nach Der Mann aus Marmor gedreht – verurteilte er aus moralischer Sicht den bedingungslosen Kapitalismus. Doch nach 1989 schwenkte er ein auf den einzig richtigen Weg antikommunistischer und prokapitalistischer Propaganda.
Dem heute allgemein herrschenden Mythos folgend, bildeten nicht etwa der Kampf um soziale Gerechtigkeit und der Einsatz für die Interessen der Arbeiter die Grundlage der Solidarnosc, sondern der Kampf für die Überwindung des Kommunismus, für ein freies, unabhängiges Polen. Dieser Mythos wird unterstrichen durch die Anwesenheit Ryszard Kaczorowskis, letzter Präsident der Londoner Exilregierung, Wieslaw Chrzanowskis (1980 Berater und Mitverfasser des Solidarnosc-Statuts) und Wladyslaw Bartoszewskis, die beide nach dem Krieg wegen Zugehörigkeit zur Landesarmee (AK) inhaftiert gewesen waren.
Der große Gewinner der Wende von 1989 ist die katholische Kirche, die in den letzten Jahren der VR Polen den Kommunisten eine Mehrung ihrer Privilegien abtrotzte und heute einer der größten Vermögenseigner im Lande ist. Im Komitee ist dieser Sieger durch Primas Józef Glemp und den Gdañsker Erzbischof Tadeusz Goclowski vertreten.
Die antikommunistische und antisowjetische Ausrichtung der Solidarnosc wurde durch die USA bestärkt, die mit der Gewerkschaft ein brauchbares Werkzeug im Kalten Krieg besaß. In den achtziger Jahren gewährte sie einerseits der Opposition finanzielle, organisatorische und propagandistische Hilfe, verhängte andererseits über das Land Wirtschaftssanktionen. Die siegreiche Supermacht ist im Komitee vertreten durch Zbigniew Brzeziñski, Veteran des Kalten Kriegs und ehemaliger nationaler Sicherheitsberater des USA-Präsidenten, sowie mittelbar durch Piotr Mroczyk, der in den achtziger Jahren Chef der in den USA gegründeten Solidarnosc-Foundation und danach letzter Chef der durch die USA finanzierten polnischen Sektion des Senders Free Europe war.
Ein ganz normaler Werftarbeiter von damals, der 1980 streikte und heute nicht unbedingt Gewinner genannt werden darf, ist nicht im Komitee vertreten. Recht so. Denn dem Komitee gehören nur Gewinner an. Ich vergaß noch einen zu nennen – den Sponsor der Feierlichkeiten, das Unternehmen Prokom.

Aus »Trybuna«, 18. August 2005; aus dem Polnischen von Holger Politt