Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Schicksalswahl?

von Eckhard Mieder

Sonntagabend, 18. September 2005, Frankfurt/Main. So, das wahl’s. Bis zum nächsten Mal in vier Jahren. Voraussichtlich. Könnte sein, jemand stellt die sogenannte positive Vertrauensfrage. Stellt sich hin, schaut um sich, erfreut sich der blühenden Landschaften zwischen Flensburg und Bautzen und fragt in die Runde: Wollt ihr, daß ich weiterregier’? Jaaaaa! Darf ich einen Nachschlag von einem Jahr haben? Jaaaa!
Jemand? Wer? Die Currywurst im Brioni, der Staatsschauspieler aus Hannover in der Rolle seines Lebens als advocatus populi? Oder die Frau, der ich nicht übelnähme, flippte sie aus, einmal nur! und träte dem greinend-jovialen Schnitzkopf, der an ihrer Seite klebt, in die Kniekehlen?
Oder gibt’s noch jemanden anderes, der auf dicke Hose macht und den Hai aus der Kiste gibt? Etwas Drittes? Eher nicht. Also der oder die. Mit dem oder denen oder jenen, sowieso nicht mit diesen. Die politische Farblehre des Wahltages: Die Republik ist bunt, und das ist auch gut so.
Wenngleich verwirrend. Als wenn jeder seinen Pinsel in die Palette tunkt und die Farben fröhlich durcheinanderrührt. Wenn niemand Verlierer ist und jeder Sieger. Wenn sie – so kommen die Jungs (und die wenigen Mädels) aus dem aktuellen TV-Topf rüber – mit Verbalspielchen für einen höchst vergnüglichen, unterhaltsamen Fernsehabend sorgen. Nur – hat nicht eben der sogenannte Souverän gewählt? Wen? Die da so unsouverän, knallchargenhaft und adoleszent ihre »Charaktermasken«-Antlitze in die Kameras halten?
Durchatmen. Nachdenken.
Mein Freund Johannes Tütenholz, übergewichtiger Fossilprolet aus Berlin-Schöneweide und trotz überhöhten Bierkonsums ein hellwacher Zeitgenosse, pflegt zu sagen: »Quo vadis, Vati? Cui bono, Mutti? Und ansonsten hilft immer, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen.« Durchatmen. Sich erinnern. Kurz mal, ehe es morgen in die Woche geht und alles sowieso nicht anders ist als am Freitag.
Ging in der Schaustellerei der vergangenen Wochen nicht einiges unter? Etwa, daß die Grünen nach der vorigen gewonnenen Wahl verlauten ließen, man wäre mit Pauken und Trompeten durchgefallen, hätte der liebe Gott nicht das Wasser und den Möllemann mit seinen Flugblättern ins Land geschickt.
Etwa, daß der Kanzler gelegentlich seiner Partei mit Rücktritt drohte. Als plötzlich der ungeliebte IWAN an die Seite seiner Tochter AGENDA trat und die Schreiner-Linke nicht ganz so wollte wie der Boß, dessen solitären, lutherischen Mut zu würdigen Späteren vorbehalten sein soll. Etwa daß die Grünen hin und wieder über den Kanzlerton jammerten, mit dem Bruch der Koalition drohten, um dann wochenlang überhaupt nicht Laut zu geben. Daß es schien, als trüge die SPD die Politik allein.
Etwa, daß es zu den Neuwahlen jetzt wegen des Kanzlers Coup vom 22. Mai kam. Und das bei all diesen »Spielchen«, die auf Reformierung des Landes zielten, nicht mehr klar war, wer oder was soll reformiert werden? Die fashionable Mitte der Gesellschaft? Um die sich alle Parteien drängen, weil sie das Bröckeln der Ränder nicht hören? Eine Mitte, von der ich lange nichts hörte. Nichts von den Politikern dieser klassenlosen Gesellschaft, nichts von den Medien dieser besten aller Welten.
Aber irgendeinen Grund muß es haben, daß sich links der Mitte etwas bildete. Etwas, das jetzt, während ich diese Sätze schreibe, über den Bildschirm flimmert: über acht Prozent.
Diese acht Prozent der Wählerschar muß man nicht mögen. Die kann man verleumden, verspotten und als randständig betrachten. Ich kenne ein paar von denen. Ich war ein paarmal an den Stammtischen der WASG in Frankfurt am Main. Hat mich interessiert, die von den Medien annoncierten Verlierer, Gedemütigten, Verlorenen kennenzulernen. Da waren einige dabei, die kamen aus Zeiten, als die klassenlose Gesellschaft noch nicht der euphemistische Konsens war. Da waren auch die jungen Studenten und Sozialarbeiter und engagierten Abgestellten, die sich sehr sachlich und kompetent mit der Politik von Rot-Grün befaßten. (Aber davon müßte ich ausführlicher berichten.)
Ich halte Arroganz und Dummheit durchaus für Zeichen von Kultur. Es ist die Kultur derjenigen, die sich Arroganz und Dummheit leisten können. Ob es aber demokratisch oder gute Politik ist, hunderttausenden Menschen ein Halsband mit der Aufschrift AGENDA oder HARTZ umzubinden und ansonsten so zu tun, als würden die sich schon selber berappeln? Unterstützt von einer Agentur, die genau das nicht schaffen kann, weil es nicht zu schaffen ist: Erwerbsarbeit.
Grad stelle ich mir vor, ich sei Helmut Kohl. Ich sitze in meinem Heim, einen guten Pfälzer Wein bei der Hand. Draußen dunkelt’s und weht’s herbstlich. Aus Spaß sage ich meiner Liebsten: Weißt du, wo ich heute mein Kreuz gemacht habe? Bei den Linken! Hähä!
Als Kohl wäre ich so ein klein bißchen rachsüchtig und hätte meinen Spaß am momentanen Tohuwabohu. Gerade höre ich, wie der jetzige Kanzler sagt, daß  CDU und CSU schon verstehen müßten, er sei der bessere Kanzler, die Menschen wollten, daß der Gerhard das Land regiere, und als Kohl sage ich: Es rentiert sich, ein wenig an der Realität herumzubiegen. Politik ist mir sowieso – sage ich als Kohl – Currywurst! Die Wirtschaft ist das Schicksal, hat so ein alter Sozi mal gesagt, hähäh!
Was wird? Große Koalition? Ampel oder Schwampel? Oder Neuwahlen? Das wär’s doch, die hatten wir lange nicht.