Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Nida – Trakai – Vilnius

von Wolfgang Sabath

Also Nida, Kurische Nehrung, Litauen. Ungeniert halten es zu Hause die Reiseveranstalter und jene Zeitungen, die deren Anzeigen drucken, auch mehr als sechzig Jahre nichtmehrdeutscher Zuständigkeit immer noch für angebracht, durchweg die deutschen Ortsnamen zu verwenden; und da der Kunde König sein soll, macht da auch eine Große unter den Linken keine Ausnahme. Also Nidden statt Nida, Memel statt Klaipeda.
Wie eine »Retourkutsche« empfindet man das hilflose Herumgefahre im Hafengelände. Wo nur ist die Fähre zur Nehrung; nichts Russisch, nichts Englisch, Deutsch ebensowenig. Vielleicht hätte Johannes Bobrowski gewußt, wie Fähre auf Litauisch heißt. Der hätte vielleicht sogar ein pruzzisches Wort dafür aufgetrieben. Falls die Pruzzen schon so etwas wie eine Fähre kannten. Doch Bobrowskis Litauische Claviere sind verstummt, auch Boehlendorff und Mäusefest stauben im Fundus der Geschichte. Wie ihr Autor, schade, schade. Auch Herr Thomas Mann ist tot, aber etwas weniger. In Nida steht er sehr zur Verfügung.
Vom Promenadenweg am Haff geht eine steile Holztreppe hinauf zum Thomas-Mann-Haus. Die fast immer deutschen Reisegruppen, die hierorts ständig aus großen Bussen fallen und durch den Ort knödeln (»Hascht g’hört, hier wird nich so viel Russisch gebabbelt.«), kommen meistensteils landseitig zum Sommersitz des Literaten. Manche Gruppen schaffen das Museum in zehn Minuten, einschließlich Gruppenfoto. Eben fehlt einer Gruppe gerade – es sollen doch alle mit aufs Bild – jemand, der sie fotografiert. Da mache ich rasch ein sehr ausländisches Kann-nit-verstahn-Gesicht.
Ich setze mich auf eine Holzbank vor dem Haus, Blick auf das Haff. Ich suche die »italienische Aussicht«, von der Thomas Mann schwärmte. Ich kneife die Augen etwas zusammen, und da die Sonne gerade in einem für meinen Zweck günstigen Winkel steht, wird mir vielleicht gleich sehr italienisch zumute sein. Der Blick geht weit übers Haff. Aus Kiefern werden Pinien.
Auf einer Tafel steht: »Die Regierung der Litauischen SSR stellte 44000 Rubel bereit.« Ich vergaß, mir die Jahreszahl zu notieren, vermutlich aber handelt es sich um die Gründung. »Es war das einzige Museum für einen deutschen Schriftsteller auf sowjetischem Gebiet.« Allerhand, denke ich, wo es doch in Deutschland vor Museen für sowjetische und russische Schriftsteller nur so wimmelt. Außer der Gorki-Gedenkstätte in Bad Saarow fällt mir dazu nichts ein. Auch die »Regierung der DDR« und die »Akademie der Künste« werden mit ihren Aktivitäten zugunsten des Mann-Hauses nicht vergessen. Etwas lückenhaft allerdings erscheint mir die Personalliste, mit der sich das Museum schmückt. Na, gut, Grass, war hier; wer, wenn nicht er. Mit Bild an der Wand. Und von den DDRlern hatte niemand je einen Fuß auf die Nehrung gesetzt? Kein Kulturminister? Kein Schriftsteller? Kein Schriftstellerverbandschef? Ich mag es nicht glauben.
Als wir nachmittags die Hohe Düne (über von den Naturschützern angelegte Stufen) erklimmen, ist der Blick über das Meer zwar kein italienischer, aber ein sehr gewaltiger. Weitab, unten am Fuße der Düne, tief unten am Strand, steht ein Gehöft: Pferde, Leute, Betrieb. Doch kaum heben wir an, uns über die seltsame Lage des Bauernhofes zu wundern, merken wir, daß es sich um eine Filmkulisse handelt. Die Bavaria dreht hier, kostensparend, einen Störtebeker-Film.

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Michail Sajontschkowski wurde 1922 in Trakai geboren, war Soldat im Zweiten Weltkrieg, studierte in Leningrad Finanzökonomie. Seit 1983 ist er Pensionär und, sozusagen, der leitende Karimäer in Trakai. Er trägt eine stumpfkegelige dunkle Kopfbedeckung, das sieht osmanisch aus. Und er achtet darauf, daß sich die Touristen in der Kenesa angemessen verhalten. Allerdings darf davon ausgegangen werden, daß sie zuvörderst der Wasserburg wegen nach Trakai kommen, zumal Stadt und Burg in einer herrlichen Seenlandschaft liegen. Vilnius ist nur dreißig Kilometer entfernt.
Länder, Könige, Herrscher und Nationen bedürfen bekanntlich immer einer Wiege, »Wiege des …«; Trakai war so eine: erste litauische Hauptstadt. Heute einer jener zahllosen Orte auf der Welt, an denen vorzugsweise Schulklassen von Geschichtslehrern gemartert werden. Auch hier unübersehbar: Lehrer und Schüler en masse. Nein, von dem Original existiert nichts mehr, die Burganlage wurde aber vor einhundert Jahren »originalgetreu« wieder aufgebaut. Erwachsene sind auch da; aber die kommen ja eher freiwillig. Vor allem für sie ist der Weg zur Burg mit Bergen von Andenkenkitsch gepflastert. Am Wegesrand sitzt ein Harmonikaspieler. Der Musikant kann offensichtlich hören wie ein Luchs: Nähert sich eine polnische Gruppe, wechselt er von litauischer Volksweise gleitend zur Warszawianka. Kaum sind die Polen vorüber, kommen Deutschsprechende heran; nach ein paar Zwischenakkorden gibt es Rosamunde. Ich bin’s froh – der Gruß hätte ja auch anders ausfallen können. Leider habe ich nicht die Zeit, auf russische Touristen zu warten. Es hätte mich schon interessiert, was er ihnen vorgespielt hätte. Ferner weiß ich nicht, ob er auch auf die anderen Nachbarn eingehen kann: Unterscheidet er national-korrekt, oder verhält er sich indifferent?
Am Straßenrand steht ein junges Trachtenpärchen. Es sind Karäer. Aber vielleicht sind sie auch nur vom Touristenamt beauftragt, Karäer zu spielen. Ihrer gibt es so wenig, daß es nicht einmal für eine einheitliche Schreibweise reicht: Karimäer, Karaim, Karämer, Karäer – mal so, mal so. Sie wurden im 15. Jahrhundert von dem litauischen Fürsten Vytautas (siehe Wasserburg!) aus der Kaukasusgegend ins Land geholt. Wie die Tataren auch, von denen noch heute etliche in Ostpolen siedeln.
Das Pärchen verkauft Trachtenpostkarten und Silberschmuck. Wir verständigen uns russisch. Die Kenesa? Hundert Meter weiter. Die Synagoge ist klein und fein. Die Karäer sind eine jüdische Sekte, deren Anhänger sich ausschließlich auf den »Text der Schrift« berufen und den Talmud ablehnen. Trakai hat etwa 6000 Einwohner, davon seien, sagt Michail Sajontschkowski, etwa 65 Karäer; im Lande gebe es vierhundert. In der Straße stehen noch alte (bewohnte) Karäer-Häuser. Ihr Merkmal: Sie stehen – anders als die anderen des Ortes – mit dem Giebel zur Straße. Teilweise hinter haushohen Blumen und Büschen. Und wie, fragen wir Herrn Sajontschkowski, der als Rotarmist auch bis nach Berlin gekommen war, wie haben die Karäer, die Juden, äh, also wie … Er begreift, worauf wir hinauswollen. Die Karäer galten im hirnrissigen Weltbild der deutschen Judenmörder ihrer nichtsemitischen Herkunft wegen als arisch – und konnten überleben.

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Vilnius, ach Vilnius – eine einzige Überforderung. Jerusalem des Ostens?  Mindestens. Wer zählt die Kirchen! Wir haben sämtliche Konfessionen abgearbeitet (nur auf eine Moschee sind wir nirgends gestoßen), haben uns durch Touristenmassen geschoben, haben in weiten Parks ausgeruht, die Universität bewundert, vor Denkmälern gestanden, in Cafés gefaulenzt, sind Säufern ausgewichen und haben auf dem Markt unsere Tasche festgehalten. Vilnius, ach Vilnius – und nun (die neue Zeit …) zieht auch noch Hare, Hare-Krishna singend und trommelnd und Energiebällchen verschenkend durch die Fußgängerzone. Die russischen Mitbürger sind, wenn ich richtig beobachtete, zu Neuen Russen (oder, wenn’s ging, auch zu Neue Litauern) geworden, reich, protzend. Die anderen, die meisten, schlagen sich vorwiegend händlernd durchs Leben.