Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Narwa – Tartu – Cesis

von Wolfgang Sabath

In Tartu trafen wir beim Frühstück einen dänischen Einzelgänger etwas späteren Jugendalters, Typ Junggeselle. In dem Einfamilienhaus in der gartenreichen Vorstadtstraße Herne (die nur zehn Minuten Fußweg zum Altstadtzentrum entfernt war – soviel zum Thema »Die Größe der Stadt Tartu«) war alles sehr neu und sehr hölzern, also sehr finnisch-estnisch. Oder umgekehrt. So jedenfalls stellten wir uns finnisch vor. Der Hausherr mit einem für unsereins unmerkbaren Namen lief immer barfuß durchs Haus. Um die Dielen zu schonen. Wir durften in Hausschuhen. Der Däne also – den wir seiner Deutschsprechweise wegen zunächst für einen sehr nördlichen Landsmann gehalten hatten – war wie wir von Narwa aus hierher gereist. Allerdings nicht mit dem Auto auf Schotterstraßen am Westufer des Peipus-Sees entlang, sondern mit Öffentlichem, mal Bus, mal Bahn. Noch haben es die Neoliberalisten hierzulande nicht geschafft, diese beiden Verkehrsmittel in Luxusgüter umzureformieren.
Der Dänenmann betörte uns dadurch, daß er doch tatsächlich geglaubt hatte, er könne in Narwa, der Grenzstadt, einfach mal so im russischen Konsulat vorsprechen, dort ein Visum erhalten und dann kurz einen Katzensprung nach St. Petersburg machen; und abends wieder zurück. Natürlich könne er ein Visum bekommen. In vier Wochen. Der Preis, den sie ihm nannten, war noch unverschämter. Diese dänische Naivität – beneidenswert. Na, gut, er hatte keine Mauererfahrung. Doch ich beneidete den Mann noch aus einem anderen Grund: Er durchstreifte das Baltikum mit nicht mehr Gepäck als einem Kleinstrucksäckchen. Er erinnerte uns an zwei redselige Leipziger im frischen Rentenalter, die wir auf der Fähre getroffen hatten und die mit den Rädern auf die Faröer-Inseln wollten – mit fast noch weniger Bagage. In grimmigem Neid dachte ich mir: Warte nur, irgendwann wirst auch du ein Gesponst an deiner Seite haben, das dir die Reisekoffer vollknallt …!
Obwohl Narwa nicht mit Leningrad respektive St. Petersburg vergleichbar sein dürfte, waren der Däne und wir dennoch in einer zutiefst russischen Stadt gewesen. Nein, schön war sie nicht. Im Krieg zerstört (»von den Russen«, wie die Esten eilfertig deutschenfreundlich versichern), gibt es dort kaum alte Bausubstanz. Dafür viel Park. Außerdem weiß ich jetzt, wo sehr viele der Berliner Schrottschüsseln landen: in Narwa, der Stadt mit zwei fetten Festungen (diesseits und jenseits des Grenzflusses), der Stadt, wo sie das einst obligatorische große Lenindenkmal aus dem Stadtzentrum an die Grenze verbrachten und den Alten heute mit raumholender Geste Richtung Rußland drohen lassen.
Das Denkmal für die gefallenen Sowjetsoldaten indes ist herausgeputzt, hier lassen sich die Russen nicht die Butter vom Brot nehmen. Was kein Kunststück ist bei einem Bevölkerungsanteil von neunzig Prozent. Nicht Rußland, nicht richtig Estland – schlechte Bedingungen für neue Lebensweisen mitteleuropäischer Färbung. Was in Tallinn oder Tartu oder anderswo heute schon undenkbar ist, hier in Narwa kannst du es noch einmal erleben: die ergebnislose Suche nach einem kleinen Café. Wie einst im Mai (oder früher in Moskau …). Auch das Frühstück im Hotel war eine einzige Nostalgieparty: Fast zugezogene dunkelrote, schwere Samtvorhänge an den Fenstern, Kascha, Schwarzbrot, Tee, Kwas, Wellfleisch und – oha! – jene lichtbraunblassen und lauwarmen Fingerlinge, die wir schon aus der Frühestzeit sowjetischer Aeroflot- oder Bahnbewirtschaftung kannten und von denen es schon damals geheißen hatte, es handele sich um Wiener Würstchen.
Tartu also, oder Dorpat. Das nimmt sich nichts. »Dorpat – älteste Universität im Osten«, hatte ich irgendwann einmal gelesen. Aber dieser Teil der Stadtgeschichte gilt heutigentags als nicht unbedingt vorzeigbar. Denn es war der russische Zar, der veranlaßt hatte, deutsche Wissenschaftler hier anzusiedeln.
Tartu: gepflegte Parks, vor dem Verfall gerettete Altstadt, Universität, kleine Cafés – eine überschaubare und angenehme Stadt. Auffällig: Der Touristenkitsch, der in Tallinn schon dabei ist, nordische Eleganz und Geschmack zu besiegen – es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein –, ist noch nicht bis hierher vorgedrungen. Nur die vorherrschende Türkultur nervt. Die Unsitte, sich Restaurant- oder Kaufhaustüren nicht gegenseitig offenzuhalten, sondern sie Nachkommenden vor den Latz zu knallen, kam mir moskauerisch vor.
Ein früherer Kollege, begnadeter Anekdotenerzähler, pflegte einst bei den sehr ausgedehnten Mittagspausen der Redakteure (McKinsey war noch nicht gekommen) wiederholt mit der Geschichte zu unterhalten, derzufolge ein getürmter deutscher Kriegsgefangener in Moskau aufgeflogen sei, weil er im GUM jemandem die Tür aufgehalten habe …
Im Antiquariat kaufte ich mir Am Moor – Gedichte von Axel Kallas, Dorpat Kommissions-Verlag H. Laakmann 1912. Darinnen: An Eesti. Ich sah aus deinen Augen Tränen laufen,/O Eesti, als dein Klagelied erklang,/ Gleich jenem Lied, das einst auf Trümmerhaufen/Jerusalems des Sehers Stimme sang. Und so weiter im Text.
In Valga passierten wir die Grenze nach Lettland. Wir fuhren die rund neunzig Kilometer von Tartu bis zur Grenze durch einen zweiten Frühling, zu Hause war schon alles vorbei. Noch nie sah ich dermaßen viele üppige Fliederhecken, Bauerngehöfte – versunken in Flieder; vor sich hinrottende einstige Genossenschaftsgroßställe (»Kolchose«): umwuchert von Flieder. Und jede Menge Ebene. Ja, gut, ab und an das eine oder andere Hügelchen. Und plötzlich: ein Skilift! Was mich sofort an Cool Runnings erinnerte. Andererseits: Das hier stets als brüderlich empfundene Finnland ist ja auch nicht gerade eine Hochgebirgsgegend und hat dennoch Skispringer …
Der Grenzübergang war nicht leicht zu finden. Vielleicht geht es gegen die nationale Ehre, mehrsprachige Schilder aufzustellen.
Riga, heißt es in den Berichten, sei die einzige wirkliche Metropole des Baltikums. Das kann stimmen. In Riga sahen wir den schönsten Bahnhof. Und die ursprünglichste Markthalle (wer zählt die Brotsorten …?). Doch vermutlich nicht mehr lange, in einem Teil hat sich schon ein eurobekannter SB-Markt etabliert. Wir sahen in R. auch die pompösesten Geschäfte. Mit den stiernackigsten Bodygards davor. Die teuersten Autos. Und die meisten Bettler. Ja, ja, ich weiß, der Jugendstil …
Cesis liegt neunzig Kilometer vor Riga und hat 18137 Einwohner. Davon sind 1439 »Lettische Nichtbürger«. Cesis sei, so die örtliche Tourismusbehörde, »eine der lettischsten Städte in Lettland«. Ich ahne nicht einmal, was damit gemeint sein könnte. Aber als wir in das Stadtrandviertel kommen, wo wir zum Übernächtigen angemeldet sind, ahne ich immerhin, wo und wie die »Lettischen Nichtbürger« wohnen. Sagte ich »wohnen«? Den Film Stalker habe ich nie richtig begriffen; aber seine Stimmung, die hatte sich mir eingeprägt – Endzeit. Hier ist Stalker pur: aufgelassene Ferienheime, halbleere Wohnhäuser, Verfall auf Schritt und Tritt, Unkraut. Vor dem Heizhaus ein Riesenberg Holzkloben.
Immerhin: Im Foyer des Hotels (früher ein Ferienheim) steht ein blanker Cola-Automat. Und Fußwege im Viertel sind auch schon neu gepflastert. Mit diesen europaweit gleichen Pflastersteinen.