Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Mensch Hiller

von Hermann-Peter Eberlein

»Mich zu identifizieren mit der Weltbühne vermochte ich indessen nie« – dieser Satz stammt von einem, der von 1915 bis 1936 immerhin einer der wichtigsten Autoren jener Zeitschrift gewesen ist: Kurt Hiller. In der Tat: Hiller und die Weltbühne – das wäre Stoff für ein ganzes Buch. Scharfsinnige politische Analysen müßten darin ihren Platz finden, aber auch die prekäre Faszination durch den »Kraftkerl« Mussolini vom Januar 1926 oder ein so gefährlicher Satz wie: »Wir brauchen, jawohl, fascistische Methoden aus antifascistischem Geist« (Gutsbesitzer, Juli 1928). Der großartige Aufruf an alle Linken Der Wille zum Weg vom März 1924 gehörte zur Gänze abgedruckt – genau wie der Artikel über Erich Mühsams Tod vom Oktober 1934.
Aber auch von Hillers Krach mit Siegfried Jacobsohn Anfang der zwanziger Jahre oder von seiner Abneigung gegen Ossietzky müßte die Rede sein und seiner Hoffnung, nach Tucholskys Rücktritt als Chefredakteur 1927 die Zeitschrift in die Hand zu bekommen. Und vom Ende der Beziehung müßte man natürlich reden: von den zunehmenden Auseinandersetzungen mit Hermann Budzislawski, die ihn Ende 1936 seine Mitarbeit an der Neuen Weltbühne aufkündigen lassen. »Dieser Parvenu hat sich für befugt gehalten, mir die Redefreiheit einzuengen, ja zu entziehen, die ich unter Jacobsohn, Tucholsky, Ossietzky als etwas Selbstverständliches besaß«, so begründet Hiller in einem Rundbrief an einundsechzig Mit-Autoren des Blättchens seinen Entschluß. Und in seinen Erinnerungen schreibt er: »Klarer und klarer wurde mir, daß die Neue Weltbühne unter Budzislawski ganz schlicht ein Organ der Kommunistischen Internationale war« – und damit für Hiller, dessen politische Ansichten immer zwischen Anarchismus, Sozialismus, revolutionärem Pazifismus und ästhetischem Aristokratismus oszillierten, inakzeptabel. Er wollte sich nie und von niemandem vereinnahmen lassen – und er war kein einfacher Mensch. Und wenn auch seinem schwierigen Verhältnis zur Weltbühne hier nicht weiter nachgegangen werden kann, so ist jedenfalls der schwierige Mensch Hiller, der als sprachgewaltiger Autor, als Kämpfer für die Freiheit des einzelnen, als Antifaschist und nicht zuletzt als Opfer seiner Zeit erst seit einigen Jahren wieder Beachtung findet, des Erinnerns auch in der Nachfolgerin der Weltbühne wert.
Kurt Hiller wird am 17. August 1885 in der Berliner Wilhelmstraße als wohlbehütetes Kind eines Krawattenfabrikanten geboren. Die väterliche Familie leitet sich von Rabbi Hillel ab, dem berühmten Schriftgelehrten und Schulhaupt der Zeit Jesu. Religiös sind die Eltern trotz dieser Herkunft nicht: Sie lassen den Sohn weder beschneiden noch »einsegnen« (wie man Bar Mizwa damals nennt); vielleicht ist die lebenslange Distanz zum Judentum hier angelegt (»Die meisten Juden taugen nichts und gleichen darin den meisten Christen.«). Mit der Mutter, einer sephardischen Schönheit und dabei »zehnmal intelligenter als die durchschnittliche Intellektuellin«, verbindet den Sohn nach dem frühen Tode des Vaters eine enge Freundschaft. Durch sie ist er mit dem Vorsitzenden der SPD-Reichstagsfraktion Paul Singer verwandt.
Kurt besucht das Askanische Gymnasium in der Halleschen Straße. Nach dem Abitur 1903 studiert er zuerst Medizin, dann Jura und Philosophie in seiner Heimatstadt (unter anderem bei Georg Simmel) und in Freiburg. Das Thema seiner Dissertation lautet: Die kriminalistische Bedeutung des Selbstmordes – das ist bezeichnend: zum einen, weil es um das Recht des einzelnen gegen die Bevormundung durch den Staat geht, der den Versuch zur Selbsttötung unter Strafe stellt, zum anderen, weil Hiller es sich selbst ausgesucht hat. Entsprechend groß sind die Schwierigkeiten, die Arbeit an einer Juristischen Fakultät zu plazieren; erst Gustav Radbruch (der spätere Reichsjustizminister) bringt sie 1907 in Heidelberg durch. Ein Jahr später wird sie unter dem Titel Das Recht über sich selbst veröffentlicht. Der Titel ließe sich als Überschrift auch über alle späteren Bemühungen Hillers setzen, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung einzufordern; 1922 erregt er Aufsehen mit seiner Attacke auf den Homosexuellen-Paragraphen des Strafgesetzbuches: § 175: die Schmach des Jahrhunderts! Selbst homosexuell, ist er zeitweise enger Mitarbeiter des großen Sexualreformers Magnus Hirschfeld.
Doch zunächst sind die eigentlichen Interessen Hillers literarischer Art. Im Jahre 1912 gibt er die erste Gedichtsammlung des Literarischen Expressionismus (er verwendet als erster den Begriff) heraus, Der Kondor, die neben Werken von Werfel, Lasker-Schüler, Schickele und anderen Größen auch Eigenes enthält. Für Zeitschriften wie Pan, Aktion, Sturm schreibt er zahlreiche Artikel. Seine homoerotischen Gedichte kann er nur als Privatdruck erscheinen lassen. Während des Ersten Weltkrieges wird er politischer; er gründet den Aktivistenbund, aus dem später der Politische Rat geistiger Arbeiter hervorgehen wird. Unter dem Einfluß von Platon- und Nietzsche-Studien fordert er die »Durchgeistigung« des Politischen (Logokratie oder: Ein Weltbund des Geistes, 1921; Verwirklichung des Geistes im Staat, 1925). Zugleich ergreift ihn ein unbedingter Friedenswille; nach 1919 ist er führend in der Deutschen Friedensbewegung. Mit der Gruppe Revolutionärer Pazifisten gründet er 1926 eine eigene Organisation, die freilich die pazifistischen Kräfte eher spaltet als bündelt und durch innere Auseinandersetzungen verschleißt. Wie denn überhaupt Hillers Naturell eher das Trennende aufreißt als Kompromisse einzugehen.
Nach der Machtübergabe an die Nazis wird Hiller mehrfach verhaftet und im KZ Oranienburg gefoltert; 1934 gelingt ihm die Flucht nach Prag und, gerade noch rechtzeitig, 1938 nach London. Hier gründet er den Freiheitsbund Deutscher Sozialisten, der die Exilierten sammeln will, und die Gruppe unabhängiger Deutscher Autoren, die Diskussions- und Leseabende durchführt. Seine Erlebnisse mit den deutschen Kommunisten faßt er 1951 in Rote Ritter zusammen.
Erst 1955 kehrt Hiller nach Deutschland zurück: in das Hamburg der Adenauerära, in der für einen wie ihn kaum Platz ist. So bleibt sein 1956 gegründeter Neusozialistischer Bund, der einen freiheitlichen Sozialismus (auch dieser Begriff stammt von ihm) propagiert, eine Splittergruppe; manche seiner neuen Zeitschriften wie Lynx, contra, Zwischen den Kriegen erscheinen nur hektographiert in Mini-Auflagen. Sein bedeutendstes Werk aber, mit dem allein er vermutlich in der Literaturgeschichte weiterleben wird, wird seine Autobiographie Leben gegen die Zeit, deren erster Band, Logos, 1969 bei Rowohlt erscheint: ein glänzend geschriebenes Zeitpanorama voller Charme und Witz, brillanter Analysen und opulenter Bilder von Begegnungen mit den Zeitgenossen. Der zweite Band Eros, die Geschichte seines erotischen Lebens, darf erst nach seinem Tod publiziert werden.
Hiller stirbt am 1. Oktober 1972 in Hamburg. Sein Nachlaß bleibt lange unzugänglich, seit einigen Jahren wird er durch die 1998 gegründete Kurt-Hiller-Gesellschaft in Hamburg verwaltet. Eine Bibliographie freilich nur der selbständigen Schriften durch Horst H. W. Müller ist 1969 noch zu Lebzeiten erschienen.
Der Publizist Hiller war radikaler Individualist und zugleich – gerade in seiner ideologischen und parteipolitischen Ungebundenheit – homo politicus und Agitator von hohen Graden, seiner »Anständigkeit« wegen geachtet selbst von dem von ihm heftig attackierten Thomas Mann. Sein Stil entbehrt gelegentlich nicht eines manierierten Wortgeklingels, ist aber immer pointiert, präzise, voller Witz und Gedankenreichtum. Der Mensch Hiller war ein Unruhiger, ein Getriebener, ein Mann des Geistes, der wußte, »daß der Geist nie an seinem Ziele ist«. Solche sind – leider – rar.