Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Mein Klassenbuch VI

von Eckhard Mieder

2002 nahm Eckhard Mieder sich vor, bis zur nächsten Bundestagswahl ein »Klassenbuch« zu führen. Seine Notizen über das, was die politische Klasse nach den Bundestagswahlen veranstaltete, sollten ihm als Entscheidungshilfe bei den nächsten Wahlen dienen.

Mittwoch, 8. Januar 2003. Das Feuilleton verdirbt einem auch jede Freude. Kaum passiert mal was überm Himmel in Frankfurt, schon erklären sie einem alles. Haben sofort einen Film oder ein Traktat parat, wo es um Amok-Läufer oder Amok-Flieger geht, die sich letztlich als arme Würstchen herausstellen. »Ich wollte nur kreisen«, soll der 31jährige Psychologie(!)-Student zu guter Letzt gesagt haben. Und dann wird auch gleich erläutert, wohin Liebe führen kann, wenn die durch Stalking erzwungen werden will. So wie in dem Almodóvar-Film, in dem ein Mann eine Schauspielerin entführt, sie fesselt und sie zur Liebe zwingen will. Mann, wärest du doch in einen der Türme gerasselt! Inzwischen haben mindestens eine Billion Flug-, Turmbau-, Katastrophen- und Sicherheitsexperten ohnehin glaubhaft skizziert, daß der Hineinflug eines Leichtmetallfluges in einen der Türme nur minimalen Schaden angerichtet hätte. (Und anbei eine kleine Statistik, wann und wo welches Kleinstflugzeug – die Piloten meist mit der Absicht des Sichselbsttötens – einschlug.)

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In der deutschen Presse kursieren inzwischen Gerüchte, der Kanzler Schröder habe eine Affäre mit einer TV-Moderatorin. Wieder mahnt Johannes Rau Manieren an. Das habe es früher nicht gegeben, daß sich in die Privatsphäre der Politiker eingemischt wurde. Na und? Früher gab’s auch weder Mikro- noch Westerwelle, keine geklonten Kinder, keine Schamhaarfrisur, und das Öl war manchmal ziemlich knapp. Die SPD gibt sich in Wiesbaden kämpferisch (nicht wegen der vermuteten Atmosphäre ihres Bosses; wenn der eine Affäre hat, wird sie Doris ihm schon austreiben). In Bad Kreuth treffen sich traditionsgemäß die CDU und die CSU. Stoiber sagt schon mal, daß er die Regierung »kritisch oppositionell« unterstützen werde. Selbst Helmut Kohl wird aus einer Limousine gehievt. Es gäbe ein Abschiedsessen für ihn. Und backt jovial in die Kameras: Wenn die »Marschmusik« spielt, dann hält es ein »altes Militärroß« wie ihn nicht. Ebenfalls hat sich die FDP zu ihrem Drei-Königs-Treffen eingefunden, auf dem Westerwelle Schluß mit lustig macht.  Mehr so nebenher erfährt der politisch immer noch Interessierte, daß Möllemann zu einer sogenannten Herrenrunde eingeladen sei. Vor der dürfe er über seine neuesten Vorstellungen von Politik plaudern. Ich freue mich auf ein lustiges Jahr, bald ist Karneval, und wenn ich mich nicht irre, geht die Welt vorerst doch nicht unter.

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Freitag, 10. Januar 2003. Was mich noch immer verblüfft, ist die Schauspielerei in der Demokratie. Was mich noch mehr verblüfft ist, daß jeder davon weiß und das Spiel mitspielt. Was mich am allermeisten verblüfft ist, daß das Kind, welches auf am Straßenrand stand und rief: »Aber der Kaiser ist nackt!«, in der Menge derer untergetaucht ist, die Cocktails süffelnd oder ihren Steuerberater von der Yacht schubsend, gähnen: »Aber natürlich ist der Kaiser nackt!« Immer mal wieder lese ich Interviews mit gewesenen Ministern, die ihre Pensionen verzehren und zugeben, natürlich wie die Kesselflicker gelogen zu haben. Jetzt kann man es ja sagen. Und so schreiben auch Bundeswehrgenerale ihre wahren Memoiren oder abgehalfterte Staatssekretäre über ihre Einblicke in die Zentren der Macht (mithin der Staatsschauspielerei). Oder ich lese über einen Politiker, Glos etwa (dessen selbstgefällig-bayerisches Poltern im Fernsehen mir so etwas wie eine Alm-Allergie verschafft), daß er ein »Feuerwerker« sei. Ein »erfahrener« dazu, dem man nicht sagen müsse, »daß jeder, der gleich zu Beginn einen großen Kanonenschlag zündet, sich allenfalls über den Druck auf den eigenen Ohren freuen kann«. Mithin wird gelobt, wer sich aufs Feuer- beziehungsweise Blendwerk versperrt? Oder ich muß mir in Diskussionen über den Irak-Krieg mit Leuten, die für die Demokratie sich geradezu häuten ließen, sagen lassen: »Natürlich geht’s ums Öl! Es geht nicht nur ums Öl, es geht um billiges Öl!« – »Wie denn?«, staune ich wie’s nackte Kind über eine vollgekackte Windel: »Die ganze Bräsigkeit drumrum – und jeder weiß, es geht nur um billiges Öl? Dafür nehmen wir den Tod von …« Da winken sie ab. Es sei nun mal erwiesen, daß die derzeitige Demokratie die beste aller Welten ist. Die zu verteidigen, muß auch zu unschönen Mitteln gegriffen werden. Etc. pp. Oder ich muß (muß nicht, kann’s auch lassen) lesen, welchen taktischen Unfug etwa der DGB-Vize Bernd Rissmann im Tarifstreit von sich gibt: »Wir befinden uns in einer Zeit, in der Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes nach Gutsherrenart wie Leibeigene behandeln werden sollen.« Gut metaphert, Löwchen; aber sonst? Auch nur so eine kräftig wirkende Blase, die zerstochen werden möchte. Das ist wie ein umgekehrter Kostenvoranschlag. Keine Firma der Welt (Deutschlands) wird Ihnen einen Kostenvoranschlag machen, der nach Abschluß der Arbeiten genau gewesen ist. Sie zahlen immer mehr. Und so sind diese Rissmann-Bilder (pars pro toto) das Umgekehrte: Eine riesige Vorgabe in dem Wissen, so ist es nicht gemeint, und wenn der Feind mit ähnlichem Kaliber schießt, dann begegnen sich die beiden Kugeln auf halbem Wege und zerplatzen. Oder: »Es gehört offenbar zur charakterlichen Grundausstattung des modernen Politikers, Fehler nicht zugeben zu können, aber Wochen oder Monate später, wenn ein bißchen Gras über die Sache gewachsen ist, um so offenherziger Verfehlungen einzugestehen«, schreibt Jens König vorgestern in der taz. Ja, macht’s uns allesamt denn solchen Spaß, verarscht zu werden? Nur weil’s uns gut geht? Weil wir wirklich glauben, in der besten aller Welten zu leben?

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Sonntag, 12. Januar 2003. Was machen die Generäle, wenn sie einen Krieg respektive einen Überfall planen? Können sie schlafen? Wie wachen sie auf? Haben sie an die Wände ihrer Wohnungen die Landkarten des Feindes gepinnt? Prägen sie sich die Städte, Wälder, Wüsten – was auch immer sie vorfinden werden im Feindesland – ein? Wird die Landkarte des Landes, das sie überfallen, Bestandteil ihres Hirns? Worüber sprechen sie am Frühstückstisch im Kreise ihrer Lieben und worüber am Mittagstisch in der Offizierskantine im Kreise ihrer Kameraden? Wie ist ihr Stuhlgang, wie tickt ihr Gewissen? Haben sie Stuhlgang, haben sie Gewissen? Gut, ich kann mir vorstellen, daß die Burschen in Uniformen Informationen haben? Aber wer sagt, warum, wann und wie die eine oder andere Wüste, die eine oder andere Stadt mit einem Schwall von Raketen und Bomben überschüttet wird? Was ist das für ein Gefühl, wenn XYZ den Knopf drückt, und es geht los? Adrenalin nach oben? Morgen gehört uns Bagdad, übermorgen die ganze Welt? – TV meldet, daß Bush binnen 24 Stunden 65000 weitere Soldaten in den Golf beordert. In der Zeitung lese ich, das bis zu 75000 Soldaten in jedem Fall auf Jahre hinaus am Euphrat bleiben. In jedem Fall? Das heißt, auch im Falle, die USA überfallen Irak nicht, blieben 75000 Armisten in der Nähe Iraks? Und dann die Nachricht, daß Nordkorea aus dem Atomwaffensperrvertrag ausscheidet. Das heißt, Nordkorea fühlt sich nicht mehr an Verpflichtungen gebunden, seine zwei Atombomben (wird spekuliert) einzusetzen. Überdies verfügen die Nordkoreaner über Raketen, die schon mal über Japan hinwegfliegen und im Pazifik aufklatschen können. Warum nicht Nordkorea, Mr. President? Weil die Koreaner kein Öl haben? Weil die asiatische Ecke da hinten hinter der Türkei oder wo schon mal ein Desaster für die Amerikaner war?