Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Das war der Tag

von Uri Avnery, Tel Avviv

Der 18. August 2005 war ein Meilenstein in der Geschichte des Staates Israels. Dies war der Tag, an dem die Botschaft der israelischen Friedensbewegung den Sieg errungen hat. Seinerzeit, zu Beginn der Siedlungsaktivitäten, hatte ich in der Knesset bei einem meiner Zusammenstöße mit Golda Meir gesagt: »Jede Siedlung ist wie eine Landmine auf der Straße des Friedens. Zu gegebener Zeit werden Sie diese Minen wegräumen müssen. Und lassen Sie es mich sagen, Madame, als früherer Soldat weiß ich, daß das Wegräumen von Minen wirklich kein angenehmer Job ist.«
Wenn ich heute zornig, zutiefst traurig und frustriert bin, dann ist es wegen des Preises, den wir für dieses monströse Unterfangen haben zahlen müssen. Die Tausenden Getöteten, Israelis und Palästinenser. Die Hunderte von Milliarden Shekel, die den Bach hinuntergingen. Der moralische Abstieg unseres Staates, die schleichende Brutalisierung, der Aufschub des Friedens um Jahrzehnte. Ich bin zornig auf die Demagogen aller Richtungen, die mit dem Marsch der Törichten begannen und fortfuhren – aus Dummheit, aus Blindheit, Gier und Machtrausch oder aus reinem Zynismus. Ich bin zornig über das Leiden und die Zerstörung, die über die Palästinenser im Gazastreifen gebracht wurden, deren Land und Wasser gestohlen wurde, deren Häuser zerstört und deren Bäume ausgerissen wurden, allein wegen der »Sicherheit« dieser Siedlungen.
Ich habe auch Mitgefühl für die Not der Bewohner von Gush Kativ, die von der Siedlerführung und allen israelischen Regierungen verführt wurden, ihr Leben dort aufzubauen – verführt, entweder durch messianische Demagogie (»Es ist Gottes Wille«) oder durch wirtschaftliche Versuchung (»eine Luxusvilla von Rasen umgeben, wo kann man von so etwas anderswo träumen?«) Viele Leute entlegener Ortschaften im Negev, die mit Armut und Arbeitslosigkeit geschlagen waren, sind diesen Versuchungen erlegen. Und nun ist Schluß damit. Der süße Traum hat sich in nichts aufgelöst, und sie müssen ihr Leben neu beginnen – allerdings mit großzügigen Entschädigungen.
Das Fernsehen hat uns einen großen Dienst erwiesen, als es zwischen den Szenen der Evakuierung alte Reportagen von der Gründung der Siedlungen einblendete. Wir hörten noch einmal die Reden von Ariel Sharon, Joseph Burg, Yitzhak Rabin (ja, auch von ihm), Hanan Porat und anderen – die ganze Litanei von Unsinn, Täuschung und Lügen.
All die Großtuerei und Prahlerei vom Siedlerführerpaar Wallerstein und Liebermann (die mich immer an Rosencrantz und Gildenstern, die beiden Bösewichte in Hamlet, erinnerten) zerrannen in nichts. Die Massen strömten nicht im gesamten Land auf die Straßen, um sie mit ihren Körpern gegen das Militär zu blockieren, das die Siedlungen evakuieren wollte. Die vielen Tausenden blieben – einschließlich der Abzugsgegner – zu Hause und klebten vor ihren Fernsehern. Die Massenverweigerung der Soldaten, den Befehlen nicht zu gehorchen – von den Rabbis versprochen und angestiftet – geschah nicht.
Im entscheidenden Augenblick wurde die Realität, um die wir schon immer wußten, für alle sichtbar: Die messianisch-nationalistische Sekte, die Führung der Siedler, ist isoliert. In ihrem Benehmen und Lebensstil sind sie der israelischen Geisteshaltung fremd. Die vielen Siedler, die man vor kurzem auf den Bildschirmen sehen konnte – jene Männer, die Yarmulkas auf dem Kopf tragen und ständig ihre zehn Slogans wiederholen, jene Frauen mit den langen Röcken und mit ihren endlosen Tänzen – muteten an, als gehörten sie zu einer geschlossenen Sekte von einem anderen Stern.
»Es sieht so aus, als wären wir nicht ein, sondern zwei Völker: ein Volk der Siedler und ein Volk, das die Siedler haßt,« stöhnte einer der Rabbis, als seine Siedlung geräumt wurde. Genau so ist es. Bei der Konfrontation zwischen den Soldaten, die aus allen Schichten der Gesellschaft eingezogen werden, und den Siedlern sind es die Soldaten, die bei dieser einzigartigen Situation das israelische Volk vertreten, während die Siedler die negativen Seiten des jüdischen Ghettos verkörpern. Die nicht endenwollenden, kollektiven Weinanfälle, die peinlich genau inszenierten Szenen, die Erinnerungen an Pogrome und Todesmärsche wachrufen sollten, die monströse Nachahmung des erschrockenen Jungen mit den erhobenen Armen aus dem berühmten Holocaustfoto – all dies erinnerte an eine Welt, von der wir dachten, wir hätten sie bei der Gründung des Staates Israel abgeschüttelt.
In der Stunde der Wahrheit begriffen die Yesha-Führer, daß sich niemand aus der israelischen Gesellschaft mit ihnen erhoben hatte, außer den Gangs von jungen Leuten aus den religiösen Seminaren, die sie nach Gush Kativ gesandt hatten. Das Tollhaus, das sie auf dem Dach der Synagoge von Kfar Darom errichtet hatten, setzte ihren Hoffnungen, allgemeine Unterstützung zu gewinnen, spätestens ein Ende, als sie die Soldaten gemein angriffen. Die wichtige Schlacht um die öffentliche Meinung hatten die Siedler allerdings schon zuvor verloren – als ihr wirkliches Ziel aufgedeckt wurde: mit Gewalt ein auf dem Glauben gegründetes messianisches, rassistisches, starkes, fremdenfeindliches Regime aufzurichten, im großen und ganzen weltabgewandt.
Was aber am wichtigsten ist: Dies wurde zum Tag, in dem eine neue Chance liegt, Frieden für ein gequältes Land zu erreichen. Es ist eine günstige Gelegenheit, weil die israelische Demokratie einen überragenden Sieg davongetragen hat; weil bewiesen worden ist, daß Siedlungen aufgelöst werden können, ohne daß der Himmel einstürzt; weil die Palästinenser eine Führung haben, die Frieden wünscht; weil bewiesen worden ist, daß sogar die radikalen palästinensischen Organisationen das Feuer einstellen, wenn die palästinensische Öffentlichkeit es verlangt. Allerdings muß genauso klar festgestellt werden, daß der Rückzug eine große Gefahr in sich birgt: Wenn wir mitten im Sprung über dem Abgrund stoppen, fallen wir hinein.
In den Augen der Palästinenser und der ganzen Welt ist der Rückzug vor allem eine Folge des bewaffneten palästinensischen Widerstandes. Wenn wir in den nächsten Wochen keine Fortschritte bei Verhandlungen machen, wird sicher eine dritte Intifada ausbrechen, und das ganze Land wird in Flammen aufgehen.