Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Auf dem Markt

von Ursula Malinka

Im vorigen Jahrhundert, an einem winterlichen Tag im Dezember des Jahres 1989, marschierte ich erstmals mit meiner Familie durch einen Stadtteil von Westberlin. Im November hatte sich plötzlich die Grenze geöffnet, und die Massen aus dem Osten begannen umgehend damit, dem Westen einen Aufschwung zu bescheren. Zeitlich war die Offerte perfekt geplant, denn die alljährliche große Bescherung stand ins Haus. Die im Westen konnten erstmals seit Jahrzehnten leere Regale bewundern, während die Ostdeutschen das Fest der Liebe mit diversen Westgeschenken aufpeppten.
Am Stadtrand hatten wir die Grenzanlagen passiert, auf der anderen Seite warteten schon Busse auf uns, die die Ankommenden kostenfrei ins Zentrum des Stadtbezirkes brachten. Die Sitze fanden allgemein Bewunderung, mit Samt (!), wie vornehm (!), und wie leise der Bus fuhr(!) und die tolle Federung und … Mit dem Hinweis, wo wir die Zahlstelle finden, wurden wir unserer Ankunft im Westen überlassen.
Zunächst holten wir uns das geschenkte Geld und taten das, was wir angeblich nie wieder tun wollten: Wir standen Schlange. Schon während der einlullenden Fahrt waren mir die Geschäftsbezeichnungen ins Auge gesprungen: Tannenmarkt, Drogeriemarkt, Getränkemarkt, Elektronikmarkt, Möbelmarkt, Blumenmarkt … Als wir uns alles aus der Nähe besahen, stellte sich solch ein Tannenmarkt, der an jeder Straßenecke zu finden war, als ein kleiner abgeteilter Platz heraus, auf dem Weihnachtsbäume verkauft wurden, natürlich nicht nur Tannen.
Als Kind kannte ich Stamperblümchen, das wandelte sich später zu Abziehbildchen und noch später zu Aufklebern. An jenem ersten Tag meiner direkten Begegnung mit dem Westen stand ich in einem Papierwarengeschäft staunend vor Bögen mit Stamperblümchen und mit drolligen Motiven – Füllhörnern und Körbchen voller Blumen – aus meiner Kinderzeit. Dort blieben sie auch. Denn der Hauch von Nostalgie wich, als ich den Preis für einen Bogen sah. Auch wenn an diesem Laden nichts von Markt stand, der Preis war gewiß marktwirtschaftlich.
Schließlich landeten wir in einem Supermarkt. Dort sah ich Obst und Gemüse wie gemalt. Arrangiert als überquellendes Angebot, wunderbar sauber, alles wie frisch aus dem Paradies. Ein Kunstwerk. Die Preise waren schier unglaublich, gar nicht paradiesisch, sondern marktgerecht. Von dem mir zugestandenen Begrüßungsgeld gab ich nicht eine Mark aus. Nur für die Kinder wurde ein wenig Schokolade gekauft.
Am 1. Juli 1990 war Schluß mit meiner Abstinenz von der Marktwirtschaft. Sie überkam uns erst als »Währungsunion« und im Herbst, ein knappes Jahr nach meinem ersten Kontakt als »Wiedervereinigung«. Dann ging alles sehr schnell, und die Marktwirtschaft entpuppte sich als das, was sie ist. Es ging nicht mehr um Tannen- und Drogeriemärkte. Ab jetzt hatten wir uns auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten.
Sodann wurden wir aus Bürgern in Kunden oder Verbraucher transformiert – in dieser Ecke hocken wir immer noch und kommen nicht wieder heraus. Wir sind umzingelt von Märkten aller Art: dem Wohnungsmarkt, dem Bildungsmarkt, dem Gesundheitsmarkt, dem Touristikmarkt, dem Freizeitmarkt, dem Kunstmarkt, dem Kulturmarkt, dem Energiemarkt, dem Dienstleistungsmarkt …
Und damit wir dort bleiben und nicht vergessen, weshalb wir auf der Welt sind, gibt es die Ladenkette Marktkauf, die in schönster Weise den untrennbaren Zusammenhang von Markt und Kaufen auf den Punkt bringt. Das haben wir nun davon.