Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 15. August 2005, Heft 17

Was die Anführer angeht: Vorsicht!

von Thomas Kurt Grieser

Obwohl der am 16. August vor 85 Jahren in Andernach geborene Charles Bukowski von der deutschen Literaturwissenschaft kaum beachtet wurde, gilt er hierzulande vielen als profilierter Autor der US-amerikanischen Shortstory des 20. Jahrhunderts. 1983 im Erscheinungsjahr seines letzten Kurzgeschichtenbandes Hot Water Music war Bukowski 63 Jahre alt. Die Hippie-Bewegung war zu Ende gegangen, der Kalte Krieg regierte diesseits und jenseits des Atlantiks. Bukowski erlebte die Reagan-Ära einigermaßen arriviert im US-amerikanischen Literaturbetrieb. Bereits fünf Romane waren veröffentlicht, sein umfangreiches poetisches Werk versuchte er, durch Lesereisen auch außerhalb der USA bekanntzumachen. Verhältnismäßig spät, erst mit 35 Jahren, hatte der Autor nach einer Karriere in verschiedenen Niedriglohn-Jobs in Los Angeles zu schreiben begonnen. Er war ein Schriftsteller, der dank seiner Erlebnisse die Phantasie nicht überstrapazieren mußte.
In seinem ersten, 1970 erschienenen Roman Der Mann mit der Ledertasche verarbeitet Bukowski seine Erfahrungen als Postangestellter. Anekdotisch und dokumentarisch angelegt, entwirft der Roman aus der Ich-Perspektive eines gewissen Mr. Chinasky eine kritisch-unverblümte und humorvolle Sicht auf das jammervolle Dasein eines Briefsortierers im Los Angeles der siebziger Jahre. Er erzählt von krankmachenden Arbeitsverhältnissen, von schlimmen Familiengeschichten, krasser Drogenabhängigkeit, ausbeuterischen Sexualbeziehungen.
Die Thematik entspricht schon den Stoffen in seinen späteren Kurzgeschichten. Die Erzählhaltung in der ersten seiner kolumnenartigen Storys (Aufzeichnungen eines Außenseiters, 1969) unterscheidet sich jedoch radikal von der Perspektive des fast zeitgleich entstandenen ersten Romans. In den Aufzeichnungen wird eine gesellschaftskritische, sogar politisch-parteiliche Haltung bemerkbar, die im Roman nicht vorkommt. In den Storys kann man zum Beispiel lesen: »Während die simple Wahrheit ist, daß sich einige von uns elend fühlen, weil sie unter elenden Bedingungen leben müssen, und daß sich das ohne weiteres ändern ließe. Was man uns unter keinen Umständen zugeben will, ist, daß unsere Geisteskrüppel und unsere Amokläufer zwangsläufige Produkte unseres gegenwärtigen inhumanen gesellschaftlichen Klimas sind, unseres guten alten American Way of Life and Death.«
Auffällig ist: Politische Stellungnahmen solcher Art sind in allen später erschienenen Kurzerzählungen nicht mehr zu finden. Bukowskis späte Storys handeln von Gesetzes- und Tabu-Brüchen, die den alten Streit um den Nutzen und die Wirkung von Kriminalliteratur neu entfachen könnten. Ein unbehagliches Gefühl stieg in mir auf, als ich die gelassene Schilderung eines Gattenmords las, der durch das Gebot unverbrüchlicher Treue motiviert zu sein scheint (Alles wegen Lilly). Und es gruselt einen, wenn man von einem anthropophagischen Mörderpaar erfährt, das seine Geisteshaltung damit zu rechtfertigen vorgibt, daß der Staat im Krieg das Töten mit Orden belohnt und die Hälfte aller Menschen unumgänglich den Hungertod sterben wird (Die Verrohung der Sitten). Schauderhaft, wenn eine Geschichte erzählt wird, in der ein gedächtnisgeschädigter und vom Leben gelangweilter Alkoholabhängiger unsicher ist, ob er den Sex mit Minderjährigen wirklich gehabt hat, den man ihm vorwirft (Ein böses Erwachen).
Bukowskis Helden erfahren die Großstadtkultur als etwas Bedrohliches, etwas Befremdendes, als glücklose Risikogesellschaft, als brutale Herrschaft der sozialen Oberschicht. Ein Beispiel ist die Story Die Heuschreckenplage, in der zwei reichgewordene Maler ein Restaurant besuchen, um vor den Augen ihrer Begleiterinnen den Kellner zu demütigen und zu verletzen. Bukowski schreibt entweder aus der Perspektive des heimlich verängstigten Draufgängers oder des Orientierungslosen. Am Ende der Geschichte Opfer der Telefonitis heißt es lapidar: »Was Männer und Frauen einander antaten, war wirklich nicht mehr zu begreifen.« Diese Wahrnehmung entspricht der Wahrnehmung durch ganz normale überarbeitete oder arbeitslose regenbogenpresselesende Großstadtbewohner. Sind die Gründe für Aggression, Alkoholismus, Vergewaltigung, Päderastie, Fetischismus, Trostlosigkeit, Nymphomanie, Langeweile, Freßgier, Halluzination et cetera anthropogen oder politisch? Bukowski bleibt uns in seinen späten Storys jede Antwort schuldig.
Bukowskis Prosa ist trotzdem Popliteratur »von unten«. In den Aufzeichnungen eines Außenseiters (1969) schrieb er über die zeitgenössischen Scheinrevolutionäre: »Wenn es zum Kampf kommt – wovon ich überzeugt bin; … – dann ist, was die Anführer angeht, Vorsicht am Platz, und bei dem einen oder andern möglicherweise die Frage erlaubt, ob er, statt die Shell-Tankstelle an der Ecke abzubrennen, nicht vielleicht doch lieber im Aufsichtsrat von General Motors säße.«