Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 29. August 2005, Heft 18

Mein Klassenbuch V

von Eckhard Mieder

2002 nahm Eckhard Mieder sich vor, bis zur nächsten Bundestagswahl ein »Klassenbuch« zu führen. Seine Notizen über das, was die politische Klasse nach den Bundestagswahlen veranstaltete, sollten ihm als Entscheidungshilfe bei den nächsten dienen.

Dienstag, 31. Dezember 2002. Bärnsdorf bei Dresden. Gestern sind wir bei Regen losgefahren (nach Geising zum Schlittschuhlaufen; was mir einen zerschundenen Ellenbogen und eine Becken-Prellung einbrachte; aber Spaß hat’s gemacht) – zurück kamen wir im Schnee. Die Landschaft um Moritzburg in traumhaftem Weiß. Im Dorf-Konsum stehen vier Männer, Bierflaschen in den Händen, und lassen das Jahr ausklingen. Der Laden hat schon geschlossen, aber die Tür ist noch auf. Essig für den Karpfen Blau fehlte noch, eine Mohrrübe für den Schneemann braucht es noch, eine Flasche Altenberger Magenbitter ist gut für die kommenden Wintertage in Hessen. – Ich greife mir einen Eulenspiegel, und der Besitzer des Ladens, Herr Hempel, sagt in breitestem Sächsisch: Er müsse nachschauen, was die Zeitschrift kostet, er habe sie noch nie verkauft. Da muß ein Berliner, der seit fast einem Jahr in Frankfurt/Main lebt, kommen, um im tiefsten Sachsen eine Satire-Zeitschrift zu kaufen! Ja, ihr Bauern, Schäfer, Gewerbetreibenden und Hausbesitzer von Bärnsdorf: Wollt ihr nicht lachen über Ämter, Herrschende, Idioten und andere Zeitgenossen? Die BILD-Zeitung deutet an, daß »unser« Hanni schwul sein könnte; auf der ersten Seite auch die Verkündung, daß die Schröders vor Gericht ziehen wollen (weil: es wird gemunkelt, verbreitet, daß der Ehesegen schiefhänge; man habe schon lautstarkes Gezänk vernommen); außerdem wird ein Bericht über die Sexorgien der Sekte versprochen, welche von sich behauptet, das erste Klon-Kind in die Welt gebracht zu haben. In einem Interview mit dem Tagesspiegel sagt Wolf von Lojewski unter anderem: »Mir fällt auf, daß die allgemeine Stimmung trübe und grau ist. Mir scheint, daß sich die allgemeine Ratlosigkeit, die die Politik bestimmt, überall hin ausbreitet. Dazu kommt eine gewisse Respektlosigkeit.« Vielleicht ist die allgemeine Stimmung trübe und grau; vielleicht ist sie es auch nicht. Wer kennt die allgemeine Stimmung? Was ist die allgemeine Stimmung? Ein Stückchen vorher erinnert W. v. L. an römische Triumphatoren. »Menschen, die beinahe täglich im Fernsehen zu sehen sind«, gibt er zu Protokoll, »tun vielleicht gut daran, sich an den Spruch zu erinnern, der römischen Feldherren bei ihren Triumphzügen durch Rom ins Ohr geflüstert wurde: Bedenke, daß du sterblich bist.«

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Freitag, 3. Januar 2003. Und die Politik? Findet statt. Auch an frostigen Tagen. J. Fischer läßt von sich hören. Irgendwie würde die deutsche Regierung denn doch Ja zu einem Krieg im Irak sagen; scheibchenweise, panzerkettengliedchenweise; »in homöopathischen Dosen«. Wir Deutsche sitzen nebbich im UN-Sicherheitsrat, auf zwei Jahre (glaube ich), und da sitzen wir zwar noch nicht als die ständigen, aber wahrscheinlich sitzen wir da als diejenigen, welche zukünftig ständig da sitzen werden, das macht unterm Strich global was her. Was? – In Bremen sitzen derweil in einem Hotel Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein paar Tage zusammen, um einen Vergleich zu finden. Der Öffentliche Dienst, vertreten durch die Gewerkschaft mit dem klangvollen Namen ver.di, will ein paar Prozente mehr, als die Arbeitgeber-Seite zu geben bereit ist. So geldscheinmäßig. Wie, frage ich mich, wie das? Zwischen wem steht die Barrikade? Zwischen denjenigen, die bedienstet sind, und den Dienstherren. Es ist dann doch eine Büro-Barrikade? Sie streiten um Geld, das ich gebe? Gaaaanz ruhig bleiben, Freund Steuerzahler. Die Blockade, die es im Bremer Hotel aufzuweichen gilt, ist eine Blockade aus Keksen? Weiches Material. Bedienstete und Dienstherren streiten sich um Steuergelder? Es geht, oder verstehe ich was falsch, gar nicht um Effizienz oder um Wirtschaftlichkeit oder um Transparenz oder oder … Es geht lediglich um die Verteilung eines Kuchens, dessen Essenzen ich mitbezahle, ohne davon einen Bissen abzubekommen? Nö. Diese (Geld)Scheingefechte: Koschnick, der nuschelnde Schlichter, steigt morgens TV-gerecht als erster aus seinem Mercedes. Neulich erst war er auf dem Balkan. So, wie Bärbel Bohley da irgendwo war oder ist? Haben nicht beide für dichte Dächer gesorgt? – Paralyse. Kriegs-Paralyse. Die USA werden den Irak angreifen. Ich bin mir sicher.

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Sonntag, 5. Januar 2003. Beim fröhlichen Zappen durch die Kanäle bleibe ich bei den durchlaufenden Unterzeilen von n-tv hängen. Über der Innenstadt von Frankfurt am Main kreist ein Motorsegler? Ein terroristischer Hintergrund werde nicht ausgeschlossen? Ja, haben wir schon den ersten April? Tatsächlich. Durch unser großes Wohnzimmerfenster kann ich über den Bertrams-Hof hinweg zum Main-Tower und zum Messe-Turm schauen. Tatsächlich segelt da was. Kommt mal näher, entfernt sich wieder. Ein Hubschrauber gesellt sich dazu und dreht bald wieder ab. Dann zwei Düsenjäger, Phantoms, meine ich. Kein Zweifel: Irgendwas geht vor im Himmel über Frankfurt. Ich bin gebannt. Inzwischen werden die Informationen erweitert. Es sitze ein Mann in dem Flugzeug, der habe den Motorsegler auf dem Kleinflughafen von Babernhausen (?) gestohlen. Er wolle mit seinem Flug an eine Astronautin erinnern, die während der Explosion der Challanger II ums Leben kam. Außerdem habe er nicht vor, andere Menschen zu töten. Er wolle sich selber nur am Schluß des Fluges töten und sein Flugzeugle in das Gebäude der Zentralen Landesbank stürzen lassen. Des weiteren melden nun auch Kommentatoren und Augenzeugen, daß die Innenstadt gesperrt, Hochhäuser evakuiert seien, der Hauptbahnhof und der Flughafen haben den Betrieb eingestellt. Ein terroristischer Hintergrund werde immer mehr ausgeschlossen, es handele sich bei dem Mann um einen Geistesverwirrten. Geistesverwirrt? Na schönen Dank auch! Wenn es so leicht ist, ein kleines Flugzeug zu stehlen, über eine moderne Urbs zu gelangen und sie stundenlang zu lähmen – ist das Geistesgestörtsein oder Cleverness? Ich will das Schauspiel bis zum Ende sehen. Dann ist er verschwunden. Einfach abgedreht. Fast bedauere ich es; wahrscheinlich mit mir die tausenden Schaulustigen, die sich in der Innenstadt und an den Ufern des überfluteten Mains eingefunden haben. Irgendwie paßt das Ende dramaturgisch nicht. Der Mann landet schließlich, wie die Nachrichten melden, auf dem Flughafen Frankfurts, sicher hinuntergeleitet von den Lotsen. Und wird sofort verhaftet. War ich erschrocken, als ich das Flugzeug sah? Es war – fatal, unwirklich, fast fühlte ich mich geschmeichelt, Zeuge von etwas Unwahrscheinlichem zu sein. Auserwählt! Ha! Vermutlich haben so etwas ähnliches die New Yorker gefühlt, die eines der Flugzeuge in die Tower flogen sahen. Selbst, als die wirklich da eingeschlagen waren, selbst in diesem Moment, vermute ich, konnten sie es noch nicht glauben.

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Die ersten Live-Bilder, dramatisch verwackelt, spielen, claro, mit dem New-York-Effekt: Das kleine Flugzeug verschwindet immer mal wieder hinter einem Turm, und es schaut aus, als flöge es in eben diesen Turm hinein. Immer und immer wieder. Diese Einstellung hätte die Chance als 9/11/shot in die Geschichte der Kameraführung einzugehen.