Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 1. August 2005, Heft 16

Mein Klassenbuch III

von Eckhard Mieder

2002 nahm Eckhard Mieder sich vor, bis zur nächsten Bundestagswahl ein »Klassenbuch« zu führen. Seine Notizen über das, was die politische Klasse nach den Bundestagswahlen veranstaltete, sollten ihm als Entscheidungshilfe bei den nächsten dienen.

Donnerstag, 5. Dezember 2002: Schröder wird als Raubkatzen-Kanzler in die Geschichtsbücher eingehen. Rilkes Panther liebt er, Lampedusas Leopard zitiert er, und jetzt spricht er in der Zeitung: »Der Löwe (sic! – icke) ist nicht gereizt. Er ist auch nicht tot, und kein Hase zupft an seiner Mähne.« Das mit dem Löwen und das mit dem Hasen und das mit der Mähne, an der kein Hase zupft – das hat er von Franziska Augstein. Die, Tochter des Verlegers Rudolf Augstein, ist, unangemeldet und für alle Anwesenden überraschend, während der Trauerfeier für ihren Vater aufgestanden und hat eine Rede gehalten. In der verglich sie ihren Vater mit einem toten Löwen, an dessen Mähne … Naja, und mit dem Hasen spielte sie, so wird spekuliert, auf Stefan Aust an. Der wiederum dementierte seine Nachfolge mit den Worten, daß Augstein Schuhe hinterlassen habe, in die niemand reinpasse. Es geht reichlich bildhaft zu im politisch-publizistischen Alltag Deutschlands, nech? Es heißt dann auch, daß nach der Trauerfeier ein Pulk von Angestellten des Spiegels mit Franziska in eine Kneipe gezogen sei, andere woanders hin. Und nun geht’s um Anteile, Macht, Einfluß. Der Spiegel, dieses (Vorsicht! Wieder Metapher!) Sturmgeschütz der Demokratie, ist ein wohlhabendes Unternehmen. Da gibt es Pfründe, Besitztümer, da geht es um die privaten Ein- und Zukünfte der Mitarbeiter. Da werden auch sogenannte Edelfedern zu – Hyänen?

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Sonntag, 8. Dezember 2002: Die GRÜNEN und ihr Sonderparteitag. Warum werde ich aggressiv, wenn ich das Mutti-hau’-mich-bitte-nicht-Gesicht der Frau Roth sehe? Warum nur möchte ich den Kuhn ins Badewasser drücken, wenn ich seine wachsam-huschenden Blicke durch den Saal der Delegierten wahrnehme? Leide ich unter einer Chef-Allergie, oder bin ich lediglich bei mir: Ich sehe was, was jeder sieht, und das ist Macht, ich rieche was, was du auch riechst: die Angst vor dem Verlust von Macht? Nu isses passiert. Die Basis nimmt anhaltend übel. Roth und Kuhn sind nicht durchgekommen als Bundestagsabgeordnete und als Parteivorsitzende. Künast und Fischer haben sich heftig eingesetzt für ihr gewohntes Duo; hat nix genützt. Auch nicht, daß Joseph im legeren Pulli, den Hemdkragen drüber fesch-frech, aufgetreten ist. Gewählt werden Angelika Beer und der Bundesgeschäftsführer der GRÜNEN, Bütikofer. Ich habe vor Zeiten die Kurze Geschichte der KPdSU und die Geschichte der SED gelesen. Eine Geschichte der Grünen zu schreiben, dafür ist es womöglich zu früh; sie könnte auch eine kurze werden. Die Geschichten der staatstragenden (und gescheiterten) Parteien sind nicht mit der Geschichte der staatstragenden (und noch nicht gescheiterten) Partei zu vergleichen?

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Sonntag, 15. Dezember 2002: Wie taktisch, wie strategisch verhalten sich Politiker? Oder: Wie albern, wie kindisch verhalten sich Politiker? Gibt es einen Unterschied zwischen Albernheit und Kalkül? Reden die manchmal doch, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist? Oder reden sie so, wie sie meinen, daß ihnen der Schnabel in einer bestimmten Situation in einer bestimmten Form gewachsen sein müßte? Sind Politiker überhaupt Menschen? Merz, lese ich, habe Merkel den Krieg erklärt. Verständlich, daß er trotzig ist, der Bub. Die Tucke aus dem Osten hat ihm, der Schmalnase aus dem Westen, die Wurstscheibe vom Brötchen genommen. Merkel hat Merz zurückgestutzt, als sie Fraktionsvorsitzende wurde, und nicht er, der dreifache Vater und Muster-Fundi. Jetzt bricht der mühsam disziplinierte Groll durch. Merkel habe zwar die damalige Abstimmung gewonnen, aber es seien »eine zerrissene Fraktion, eine verunsicherte Partei und eine wochelange Personaldebatte« übriggeblieben. Ein Großteil der Fraktion habe, so Merz, Merkels Spiel »mit geballter Faust in der Tasche mitgemacht«. Was denn nun? Erinnere ich mich recht, dann haben Merkel und Stoiber einen gewaltigen Erfolg errungen, als sie, vereint, beinahe die Wahl gewonnen hätten. Es war ein Erfolg für die CSU/ CDU. Und er wäre nicht zustandegekommen mit Merz an der Tete. Welcher Deibel reitet den Typen, jetzt vom Leder zu ziehen? Muß er sich ins Gespräch bringen? Nützt es irgendeinem CDU-Funktionär in Hessen oder Niedersachsen, wo demnächst Wahlen stattfinden? Ist es nur eigene Eitelkeit, die Merz treibt? Wieso provoziert der Bub jetzt eine Auseinandersetzung innerhalb der CDU, eine Personal-Debatte (»mit geballter Faust auf dem Tisch, heujo!«), wo es doch um das Land geht, das gegenwärtig gegen die Wand gefahren wird; wie es verkehrsunfalltechnisch aus den Lautsprechern der Kommandobrücke auf dem Schiff CDU schallt. Merz hat noch nicht verwunden, deshalb der »Blick zurück im Zorn«?, daß Merkel seine Bauklötze gestohlen und in ihrem Arbeitszimmer aufgebaut hat. Freunde von Merz, lese ich, meinen: Ihr Friederich, der Friederich, habe zum Jahresende – symbolique! – noch einmal daran erinnern (sprich: per Zeitungspapier dokumentieren) wollen, wie mit ihm umgesprungen worden sei. Und zwar, bevor die Legendenbildung um Merkel ihren Kessel schließt. Was ist Ihr Gewinn, Herr Merz? Frau Merkel, heißt es, wolle zu Merzens Erguß keine Stellungnahme abgeben. Was ist es denn nun? Kindisch? Kalkül? Kasperletheater? Oder ist es nur, weil Weihnachten ist; auch eine Politiker-Seele liegt und zieht blank, und Tränchen tropfen mit Kerzenwachs um die Wette.

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Schwenkt’s allmählich wieder um, das Spekulations- und Meinungspendel? Der Kanzler sei angeschlagen; aber der Wille zur Macht habe Schröder noch längst nicht verlassen. Wieder wird die Raubtier-Metapher benötigt. In der Sonntags-FAZ wird vom »politischen Tier« gesprochen. Das sei am gefährlichsten, wenn es mit dem Rücken an der Wand stehe. Das in die Enge getriebene Raubtier. Das Wesen, das alles auf eine Karte setzt. Jemand, der wittert … Wie nützt ihm da die Attacke Merzens auf Merkel! Jede Unstimmigkeit in der CDU entlastet Schröder und nimmt den Druck von ihm und der Regierung … Und dann wird Schröder mit einem Boxer verglichen, der über zwölf Runden gehen kann und noch, wenn er angeschlagen ist, erkennt, wann er den Lucky Punch setzen kann. Was wirklich verwundert – oder warum ist es so? –: Die Stars des Kabinetts schweigen. Weder Schily noch Fischer, weder Stolpe noch Eichel sind zu hören. Heißt das: Schröder ist stark genug und braucht keine Fürsprecher? Hält der Kanzler sich eine Reserve? Eines kann das Schweigen ja nicht bedeuten: daß sie Schröder ziehen lassen und sei es in den Keller. Denn dahin müßten sie ihm alle folgen. (Außer Fischer; der ist vielleicht schon Mitglied im CSU-Parteikollektiv des Münchner Hofbräuhauses; oder sollte sein langer Lauf zu sich selber, der lange Marsch durch seine Seele schon beendet sein?)