Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 15. August 2005, Heft 17

Märchenstunden

von André Herzberg

Disneypark Paris – manche Dinge lassen sich eben nicht vermeiden. Ich hatte meinem Sohn versprochen, dieses Ziel anzusteuern. Was war schuld? Die Werbung, seine Mitschüler, der Druck von außen? Immerhin konnte ich ihm den Kompromiß abringen, daß wir nur für einen Tag dort sein würden, uns aber ansonsten in Paris rumtreiben.
Wir fuhren mit der Vorortbahn. Bei der vorletzten Station wurde er nervös. Er beobachtete die anderen Kinder im Abteil, dann scharrte er mit den Füßen und stellte sich für eine gute Ausgangsposition an die Tür. Ich mußte nachziehen. Die Tür ging auf, er rannte los, ich an seiner Hand hinterher. Erst nach und nach, als wir im unendlichen Strom der anderen waren, vor und hinter uns, ließ sein Ziehen nach. Wir trudelten in ein buntes Loch. Schon der Park, erst recht das Schloß, ließen uns stehenbleiben für die Berührung. Die Farben waren zu bunt.
Ich suchte das Schild Kasse. Die Musik wurde lauter, sie sollte uns von nun an nicht mehr verlassen, wie auch der süßliche Geruch. Die Quelle war immer verdeckt, nirgends Lautsprecher, auch die Restaurants oder Freßbuden waren integriert.
Vater hatte mich abgeholt. Dieser Tag war Ritual, als wäre es immer schon so gewesen und würde immer so sein. Mutter hatte den Kartoffelsalat schon gemacht, mit Apfelstücken, er stand abgedeckt unter einem Teller, für abends. Wir wühlten uns durch die Menge, bis wir vorn an der Absperrung standen. Das Dröhnen wurde so stark, daß es meinen Körper ganz ausfüllte, bis er vibrierte. Auf der Straße waren schon Dellen zu sehen, dann kamen wieder neue Fahrzeuge. Von dem Mann sah man nur die schwarze Kappe. Jetzt waren die Ketten vor meinen Augen, der schwarze Rauch aus dem Panzer fuhr mir in die Augen, dann schon der nächste, der einen Ruck machte und direkt auf mich zufuhr, im letzten Moment korrigierte er brav. Ich schaute hoch zum Vater, der wie alle anderen gebannt nach vorn sah. Ich hatte unwillkürlich den Mund geöffnet. Hinter dem Dröhnen war die Stimme: Unsere Jungs, ich wendete den Kopf zu den Lautsprechersäulen, ebenso graugrün wie die Panzer, wenn ich mich konzentrierte, konnte ich noch das Echo hören.
Mein Sohn hatte die Karte, die wir am Eingang gefunden hatten in der Hand, zuerst zum Frontierland, die Bahn sah man von weitem auf der Insel um den Berg fahren. Noch standen wir am Ufer, am Tor zogen wir Wartemarken. Trotzdem wieder eine Schlange, auch sie gehörte zur Inszenierung. Es war ein Bergwerk, die Gleise morsch, aber erst mal ging es in den Tunnel, dann waren auch wir auf der Insel. Alles hob die Arme und juchzte, auch ich.
Vater und ich hatten uns in den Strom der Werktätigen eingereiht. Nun erschien im Laufen die Tribüne, dort waren die Besten und er. Wir grüßen die Belegschaft des Rundfunks, hoch, hoch hoch; auch wir warfen die Arme rhythmisch nach oben. Noch besser wäre es gewesen, selber auf der Tribüne zu stehen, gleich bei ihm. Ich musterte noch mal scharf die Reihen, und wirklich, dort oben waren auch Kinderhände, wo aber war der Strohhut mit der Nelke in der Hand. Mechanisch murmelte Vater die Namen der Genossen des Politbüros, endlich hatten wir ihn entdeckt.
Mein Sohn und ich hatten einige Fahrten hinter uns gebracht, dann durfte ich eine Zigarette zum Verschnaufen rauchen. Nirgendwo war man vor der Musik sicher. Als wir wieder auf dem Hauptplatz waren, sammelte sich die Menge. Die Musik wurde lauter, ich organisierte Zuckerwatte. Die Kameras klickten schneller. Schneewittchen, Die Schöne und das Biest, Dornröschen, Pluto, Mickeymouse, alle Märchen der Welt fuhren an uns vorbei. Alle winkten. Neben mir sah ich Menschen aus allen Ländern, in allen Hautfarben.
Wir fuhren mit dem Boot, es schwankte weich. Eine Fahrt über die Erde, die Kinderfiguren lächelten und winkten, Griechenland, eine Akropolis aus Pappe, spanische Kinder, indianische mit der Freiheitsstatue, Negerkinder mit Strohröckchen, das immer gleiche Lied, nun mit Balalaikaklängen für die russischen Kinder mit Bär. Mein Sohn schrie die Namen der Länder, ich kotzte leise ins Wasser. Der Tag in Disneyland war noch lange nicht zu Ende.