Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 29. August 2005, Heft 18

Eine unbillige Forderung?

von Julia Michelis

Das Schönste war das Logo: Fröhlich und offen, merkwürdig und mehrdeutig zugleich, gab es dem braven Titel dieses Treffens einen geheimnisvollen Reiz. Im nachhinein denke ich, daß mir dieses Logo den letzten Anstoß gab, zum ersten Sozialforum in Deutschland nach Erfurt zu fahren. Was ich in den begeisterten Berichten über die Aufbruchsstimmung in Porto Alegre gelesen hatte – hier hoffte ich, etwas davon wiederzufinden. Etwas, das über den Protest gegen die Agenda 2010 hinausgeht; das sich auf den Reichtum menschlicher Möglichkeiten besinnt, allen Menschen eine Zukunft zu geben. Ja, sicher, auch die großen Entwürfe setzen viele kleine Schritte des Analysierens, Denkens und Handelns voraus. Aber eine Stimmung, eine Atmosphäre, die Hoffnung macht – ist das eine unbillige Forderung?
Mich hat jedenfalls die Grundstimmung, die ich auf dem Domplatz in Erfurt und im großen Festzelt bei Demonstration und folgender Kundgebung erlebte, ganz mutlos gemacht. Unter den zumeist älteren Teilnehmern im Zelt herrschte Abwarten, um nicht zu sagen eine gewisse Lethargie. Manchmal eine Reaktion aus dem einen oder anderen Grüppchen – bis der DGB-Vorsitzende Thüringens eine Nachbesserung von Hartz IV #verlangte. Da setzte minutenlanger Protest ein, verbunden mit der lautstarken Forderung nach Abschaffung dieses Gesetzes. Alles richtig, alles berechtigt, aber das verlangen die Anti-Hartz-Demonstrationen seit einem Jahr. Werden nicht viel weitergehendere Impulse benötigt? Ist es nicht wünschenswert, daß die Idee Ein anderes Deutschland ist möglich Realität wird?
Sicher, es gab dazu in den einzelnen Seminaren und Workshops Anregungen und Entwürfe. Aber hier liefen auch etliche Veranstaltungen aneinander vorbei, was zum Beispiel die Teilnehmer der einzelnen Seminare zu Wirtschaftsalternativen sehr kritisierten. Nur die Gruppen, die den »Kampf ums Wasser« behandelten, schafften es in letzter Minute, sich auf eine gemeinsame Veranstaltung zu verständigen. Sie waren denn auch mit den Ergebnissen (Austausch von Thüringen bis Uruguay!) zufrieden. Hier hatte die in der Charta von Porto Alegre angestrebte Vernetzung funktioniert – in völliger Selbstorganisation. Doch offensichtlich nur hier. Hätte nicht etwas mehr organisatorischer Anschub im Vorfeld befriedigendere Ergebnisse für die Teilnehmer gebracht? Auch wenn die Charta strikt auf Selbstorganisation setzt?
Lieber Erhard Crome, selbst wenn Sie im Neuen Deutschland (30. Juli 2005) gleich die Zuchtrute »typisch deutsch« hervorholten, als nach den Ergebnissen von Erfurt gefragt wurde, so möchte ich mich diesen Fragern dennoch anschließen. Ich finde nicht – um einen alten Witz zu zitieren – daß dieses »Schön, mal darüber gesprochen zu haben« reicht. Wie soll sich denn so ein landesweites Forum ohne kritisches Nachfragen weiterentwickeln? Oder war Erfurt schon das Non plus ultra? Und ist Effizienz prinzipiell negativ? In Deutschland gibt es immerhin eine 140jährige linke Tradition, weit mehr NGOs und viel größere Organisiertheit als in den meisten Ländern. Warum kann nicht aus diesen Erfahrungen geschöpft werden? Die Leistungen aller Ehrenamtlichen, aller Aktiven in Erfurt verdienten es, zum Beginn einer hoffnungsvollen Bewegung beigetragen zu haben.