Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 1. August 2005, Heft 16

Aufsteller & Rüberbringer

von Paul Oswald

Oh, Gott, wir haben schlimme Monate vor uns, und es steht zu befürchten, daß nicht einmal entschlossene Nichtwähler den Inszenierungen entkommen werden. Es sei denn, sie beschlössen, fortan keine Zeitungen mehr zu lesen, keinen Fernseher einzuschalten und das Radio schweigen zu lassen. Doch das verlangte geradezu autistische Fertigkeiten. Man könnte sich auch bis nach der Wahl einfrieren lassen. Aber da das die Kasse nicht übernimmt, ist auch diese Methode kaum praktikabel oder nur für Gut- und Besserverdienende. Zum Beispiel für die in Ämter und Kanzleien gelangten Grünen, deren folkloristische Vorsitzende neulich alles Ernstes (dessen sie fähig ist …) behauptete, die Grünen seien eine moderne linke Partei.
Ein Vorgeschmack dessen, was uns in den nächsten Wochen und Monaten erwarten wird, erhielten wir ja schon damals am NRW-Wahlabend und in den Tagen danach: Sie waren sofort wieder zur Stelle (vielleicht waren sie auch nie weggewesen …) – die Rüberbringer und die Aufsteller.
Die Gewinner hatten, natürlich, ihre Angelegenheit »gut«, die Verlierer haben sie »nicht gut rübergebracht«. Kurzum: alles nur eine MarketingFrage. Und als jener Mann, der sich einst hatte an den Arbeitslosenzahlen messen lassen wollen, Neuwahlen ins Spiel bringen ließ, vergingen keine vierundzwanzig Stunden, und alle Spieler waren wieder gut »aufgestellt«. Nur der PDS-Vorsitzende Bisky hatte mit der Aufstellung einen Tag länger gebraucht. Aber das muß uns nicht irritieren, ist seine Partei doch damit in ihrer Norm geblieben. Wer schon die Hartz-IV-Proteste verpennt hat und mitnichten an der Spitze sozialer Bewegungen steht oder – auch das noch …! – selber welche initiiert und seine Genossen lieber verbeamtet und sachbearbeitend hinter den Schaltern von Arbeitsämtern sieht als protestierend davor, muß uns nicht mehr irritieren. Aber »aufgestellt« ist die PDS nun auch, und zwar, wie sich ihr Vorsitzender von seinen Beratern sagen ließ, »besser als 2002« (Quelle: Neues Deutschland). Kurzum: Wo wir auch stehen, wohin wir auch sehen – überall lauern auf uns »Rüberbringer« und »Aufsteller«.
Doch inzwischen ist viel passiert: Eine Partei hat sich umbenannt. Ob das etwas bringt, muß sich erst noch erweisen. Da sind natürlich wieder Aufsteller und Rüberbringer gefragt. Doch das betrifft natürlich nicht nur die Partei mit dem neuen Namen, es betrifft die Aktivisten und Aktionisten aller Parteien. Und noch bevor unsere Bundes-Nanny-Ich-liebe-Deutschland über Neuwahlen entschieden hat, sind sie allesamt heftig am Werkeln. Wahlkampf als das Leben selbst (frei nach einer Höge-Kolumne in der jungen Welt). Das Problem (als solches von den Protagonisten in den seltensten Fällen begriffen): Es ist alles so furchtbar durchschaubar, es trapsen – sozusagen – Heerscharen von Parteinachtigallen durch das Land, hörbar bis in den letzten Winkel. Ein im Wählerinteresse öffentliches und gegenseitiges Abklopfen von Sachkonzepten findet nicht statt. Vielleicht hat es einen derartigen Wahlkampf noch nie gegeben, vielleicht kann es den gar nicht geben – aber das macht die Angelegenheit ja nicht appetitlicher. Zumal: Der Wähler spielt das Spiel ja weitgehend mit. Es reicht ihm, dem Anhänger der Partei X, wenn ein Rüberbringer der X-Partei einfach behauptet, die Y-Partei besäße keine Lösungsvorschläge für dieses oder jenes. Denn X-Partei-Rüberbringer und -Aufsteller können sicher davon ausgehen, daß der Bürger – wer, der Bürger? – die Behauptung nicht nachprüfen wird. Wer behauptet, Wähler interessierten sich wirklich für Wahlprogramme, ist ein Narr. Oder er lügt – sich in die Tasche. Oder er ist ein Zyniker und bei einer Werbeagentur beschäftigt, die von Wahlkämpfen lebt.
Und so wie X verfährt Y, und wie Y handelt Z. Und wenn, selten genug, Journalisten eine sachliche Befragung eines »umstrittenen« Politikers zustandebringen wie die ausgewiesenen Profis Gabi Bauer und Hartmann von der Tann, die im Fernsehen Oskar Lafontaine »Zur Sache« befragten, kommentiert am nächsten Tag prompt eine Zeitung, sie seien ihm nicht gewachsen gewesen (Der Tagesspiegel). Talkshows hingegen, die zu Flegelrunden ausarten, wie zum Beispiel jene Sabine-Christiansen-Aufführung in der ARD zum Thema »Brauchen wir eine neue Linke?«, in der sich insbesondere Hansjochen Vogel unrühmlich hervortat, werden mehr gemocht. Ihr Unterhaltungswert ist größer. Vorausgesetzt natürlich, es geht gegen die richtigen Leute …
Die Rüberbringer und Aufsteller nerven. Aber der Gemeine Wähler bekommt ja zum Glück nur sehr selten mit, was sich, wenn Wahlen bevorstehen, in den Parteien abspielt. Dann nämlich sind Aufsteller von ganz besonderer Art und speziellem Geschick zugange – das Gerangel um Listenpätze gehört zum Unappetitlichsten, was unser Wahlsystem zu bieten hat. Indes, mir scheint, daß bei den sogenannten Altparteien in dieser Hinsicht weniger an die Öffentlichkeit dringt als bei PDS und Grünen. Wenn ich ein Rüberbringer und Aufsteller einer dieser beiden Gruppierungen wäre, würde ich natürlich behaupten, sie seien eben mit größerem Demokratiebewußtsein ausgestattet. Dabei haben sie nur etwas weniger Übung, das ist alles. Da lese ich neulich zum Beispiel, daß die Brandenburgische PDS auf der Landesliste ihre Leute auf den Plätzen 1 bis 6 unterbringen möchte, die neuen Bündnisbrüder von der WASG könnten danach … Das nenn’ ich mir doch sozial gedacht!
Und bei den Grünen haben sie den einstigen Bürgerrechtler Werner Schulz durchgereicht. Der versucht es nun als Direktkandidat in Berlin-Pankow. Bei Schulz allerdings hatte sich mein Mitgefühl in Grenzen gehalten. Der nämlich äußerte vor längerer Zeit einmal (in welchem Zusammenhang, google hilf!, ist mir entfallen), er müsse Abgeordneter sein, weil er eine Familie zu ernähren habe.
Ich liebe Deutschland (wie mein Präsident). Vor allem, weil es keine Wahlpflicht gibt.