Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 4. Juli 2005, Heft 14

Menschlich marode

von Ove Lieh

Unsere Schlagwortsprache ist zur Zeit ein wenig gedunsen – ›menschlich‹ ist eine der zahlreichen Beulen, die zu verarzten wären.« Ich wüßte nur zu gern, was Kurt Tucholsky sagen würde, erführe er, daß die Beule auch 2005 noch blüht. In der Vossischen Zeitung hatte er 1927 zu klären versucht, daß das Wort menschlich »wie so viele Fachwörter der neuen Innerlichkeit … in Wirklichkeit etwa« heißt: »›und überhaupt und so‹ – denn eine exakte Bedeutung ist da nicht zu finden. Die Entdeckung eben dieses Menschlichen hinter dem Fachwerk der Berufseitelkeiten ist lustig genug – vollkommen irreal und in Wahrheit nicht vorhanden.«
Davon läßt sich, wie »große« Ereignisse der jüngeren Vergangenheit zeigen, in denen es wie verrückt »menschelt«, kaum jemand beeinflussen. Ganz im Gegenteil, es werden neue »Beulen« erzeugt. Eine davon heißt »marode«. Wenn man aus meist ungenannten Gründen absolut nicht bereit ist, sich ernsthaft über den Zustand irgendeines »Gegenstandes«, über die Gründe, die zu diesem geführt haben und gar noch über Möglichkeiten der Verbesserung eben jenes Zustandes zu unterhalten und sich nicht offen zu sagen wagt, daß man das jeweilige »Ding« in seiner bisherigen Gestalt, Organisations- oder Eigentumsform (das ganz besonders häufig) nicht mehr will, weil es eigenen oder »nahestehenden« Interessen nicht entspricht, bezeichnet man dieses »Ding« als »marode«. Dieses Wort soll so viel bedeuten wie »heruntergekommen«, »abgewirtschaftet«, »ruiniert« (Brockhaus Enzyklopädie).
Abgeleitet wurde es aus der Soldatensprache, in der es ursprünglich ›marschunfähig‹ bedeutete, womit die Fußkranken gemeint waren, die nicht mehr mitkamen und während des Nachziehens plünderten. Und da wird es spannend. Denn man verwendet das Wort zum Beispiel sehr gern für die Wirtschaft der DDR. Wahrscheinlich war sie gegen Ende der DDR tatsächlich ermüdet, entkräftet, wegmüde, marschunfähig (Kleines Fremdwörterbuch: marode). Davon hätte sie sich aber bei fachkundiger Pflege vielleicht erholen können! Aber da waren ja die Plünderer!
Geplündert wurde sie nicht nur einmal. Es fragt sich nur, ab welchem Zeitpunkt es vor allem fußkranke Nachzügler (Marodeure) waren, die woanders nicht mehr mitkamen und sie deshalb ausplünderten bis aufs Letzte. Erst anschließend war sie wirklich ruiniert.
Jeder kann beobachten, was von wem heute alles als marode bezeichnet wird. Sofort fällt einem der Sozialstaat ein. Wer waren da wann die Plünderer? Auch die Autobahnen sollen ja jetzt marode sein. Gern nimmt man auch Schienennetze, Bausubstanz und so weiter. Überall Marodeure! Jedes Thema ist möglich! Marode Systeme, natürlich fremde oder vergangene, zum Beispiel. Wenn man sich aber bestimmte Probleme der Gegenwart anschaut wie Massenarbeitslosigkeit und -elend weltweit, Krieg, Terror und Menschenhandel keimt der Verdacht auf, hier könnte ein System wegmüde – marode – geworden sein. Nach moderner Lesart wäre es damit erledigt und zu beseitigen (modern formuliert: zu reformieren). Und da wären wir dann doch wieder bei dem oben erwähnten Wort »menschlich« – und doch ganz woanders, aber immerhin ganz sicher bei Tucholsky!