Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 4. Juli 2005, Heft 14

Mein Klassenbuch II

von Eckhard Mieder

2002 nahm Eckhard Mieder sich vor, bis zur nächsten Bundestagswahl ein »Klassenbuch« zu führen. Seine Notizen über das, was die politische Klasse nach den Bundestagswahlen veranstaltete, sollten ihm als Entscheidungshilfe bei den nächsten dienen.

Sonntag, 22. September 2002, Wahltag: Am Abend kommen E. und K. zu Besuch. E. ist Fernseh-, K. ist Zeitungsjournalist. Sie sind unsere dienstältesten westdeutschen Freunde. E. und meine Frau lernten sich während des Jahreswechsels ’89 auf ’90 anläßlich einer Fernseh-Talkshow in Eisenach kennen. Beide lieferten Einspieler zur Live-Sendung, dreiminütige Filmchen zum Thema Wie habe ich die 80er Jahre erlebt, die SS-20- und-Pershing-Jahre? Beide, gleichaltrig, stellten verblüfft und mit Neugierde aufeinander eine unterschiedliche Sehweise fest: Während die Westdeutsche eher theoretisch, analytisch berichtete, erzählte die Ostdeutsche von ihrer ureigenen Angst vor einem Krieg. Der West-Film war ideologisch und allgemein, der Ost-Film war menschlich und konkret. E. und K. waren es auch, bei denen wir auf unserer Tramptour durch Westeuropa (März bis Mai 1990) den ersten Halt machten. Frankfurt am Main; damals besuchte Stadt, heute unser Wohnort. E. und K. wohnen noch immer in der Lenaustraße. Auf der unweit entfernten Eckenheimer Landstraße, nicht weit von unserer heutigen Wohnung, kaufte ich mein erstes Westhemd, Wolfskin, und wir tauschten in der Nassauischen Sparkasse D-Mark in Franc und Pesetas um. E. und K., bin ich mir sicher, haben sowohl mit der Erst- wie mit der Zweitstimme die Grünen gewählt. Das gehört sich für Frankfurter, die sich über 1968, den Pflasterstrand, die Hausbesetzungen und den Semitismus definieren. Joschka Fischer Superstar – wie nahe sie dabei einer Verehrung und Bewunderung sind, die wir in der DDR Personenkult nannten! Aber vielleicht bin ich nur schwerfällig und nicht fähig, flexibel meine Positionen zu wechseln. Daß sich welche von Steinewerfern, Pamphletschreibern, ja auch von brandschatzenden und mordenden RAFlern zu Bürgern, die klug, sittlich und staatsbewußt handeln, wandeln – das halte ich selbstverständlich für möglich. Nur, daß in der Mediendemokratie darüber monatelang feuilletonisiert werden muß, nur, daß jedes Rumpelstilzchen ein Feuerchen entzünden und drumherum tanzen kann – das verwundert mich auch nach über zehn Jahren Mitgliedschaft in der Demokratie noch immer. Ich halte diese Aufgeregtheiten für unnötig. Fischer und Trittin werden für mich wegen ihrer Wandlungen, Wendungen und Windungen hin zur Ministrabilität weder zu Übermenschen noch zu Verrätern. Es sind Menschen, die sich wandeln. Im übrigen sind die Grenzen zwischen Ambition und Opportunismus, zwischen Machtstreben und Machtkalkül, zwischen Eitelkeit und Veränderungsehrgeiz nicht nur fließend. Diese Grenzen existieren gar nicht. Macht wird bewundert, und ein Aufstieg aus dem Strand unterm Pflaster, das vorher in Handarbeit aufgerissen wurde, ist sakrosankt. Das ist die Suppe der Frankfurter, die kochen sie gern mal wieder auf und speisen davon in Ehrfurcht vor sich selber. Wir haben Kartoffelsalat angerichtet (mit Frankfurter Würstchen, weil es keine Halberstädter Würstchen bei Tengelmann gibt). E. und K. haben Wein mitgebracht. So müßte sich die Unerträglichkeit der Spannung dieses Wahlsonntagabends ertragen lassen.

***

E. und K. betraten die Wohnung jubelnd. K. hatte, bevor sie sich auf den Weg zu uns machten, in der Redaktion seiner Zeitung angerufen. Redaktionen, lerne ich, erhalten die erste Hochrechnung früher als das normalsterbliche Publikum. Den Grünen werden über neun Prozent prognostiziert. Rot und Schwarz liegen gleichauf. In den kommenden Stunden geht es hin und her, und die Gesichter von E. und K. widerspiegeln Furcht und Entsetzen und Hoffnung und Freude. Vor allem zerren die doch frappanten Unterschiede in den Hochrechnungen von ZDF und ARD an den Nerven. Während bei dem einen Sender zwischen CDU und SPD nicht mal ein ganzer Prozentpunkt liegt, liegen bei dem anderen Sender zwischen den Parteien fast drei Punkte Unterschied. Zwischendurch hatten wir die Idee, in die Kneipe Horizont zu fahren. Die sei ein Treff der Grünen gewesen, in den Endsechzigern, als sie noch nicht die Grünen waren, sondern Krawallbrüder, Steinewerfer und Chaoten geheißen wurden. Friedberger Landstraße, Ecke Egenolffstraße. Da ginge gewiß die Post ab. Aber wir bleiben dann doch gebannt vor dem Fernsehgerät sitzen. Außerdem macht der Wein schwerfällig und – diskussionssüchtig. Habe wieder einmal die Regel mißachtet, nach 22 Uhr abends und alkoholisiert besser nicht zu diskutieren.

***

Montag, 23. September 2002: Rot-Grün hat es geschafft. Mit insgesamt elf  Mandaten liegen sie vor dem Bündnis Schwarz-Gelb. Wieder zu Hause hänge ich am Fernsehgerät, um die Pressekonferenzen auf Phoenix zu verfolgen. Ein launiger Alt- und Neu-Bundeskanzler, das bluthochdruckrote Pinocchio-Gesicht Fischers und die jungfernhaft juchzende Claudia Roth. Westerwelle: zerknirscht über blau-gelber Krawatte. Stoiber ist schon wieder in München oder doch gleich wieder in Berlin? Er sieht sich als den eigentlichen Wahlsieger, kraft CSU, die in Bayern mehr Stimmen eingefahren hat als die Grünen insgesamt in der Republik. Die PDS ist ein echter Loser, ohne Wenn und Aber. Und immerzu reden die Experten, analysieren, ziehen Statistiken aus den Gehirn-Schonern wie der Zauberer Kaninchen aus dem Ärmel. Wie viele Frauen mehr die SPD statt CDU/CSU gewählt hätten. Wie die Wählerwanderung vonstatten gegangen sei. Von den Politikern dazu kaum ein Wort. Von denen sagt, scheint’s, niemand so gern, woher die Stimmen kommen. Niemand sagt: Ohne die Zehntausenden von Stimmen aus dem Osten könnten SPD und Grüne sich betrinken und in den Kaschemmen des Landes mal wieder Opposition trainieren. Tut mir leid, Freunde der Demokratie, aber ich hoffe und wünsche, daß die Ostdeutschen noch viele Jahre lang ein Mysterium und in ihrem Wahlverhalten überraschend bleiben. Ich glaube nicht, daß es einer Demokratie guttut, wenn es berechenbare Klientel gibt, abgezirkelte Argumentationen – und mal gibt’s da ein Prozentlein mehr, mal da eines weniger. Und die PDS? Abgesackt und abgekackt. Das kann in vier Jahren, das kann schon in zwei Jahren bei den Landtagswahlen wieder ganz anders aussehen. Doch, eine Politikerstimme höre ich. Ganz ausgeflippt, als sie den Direkteinzug ihres Parteikollegen Ströbele feiert und dabei doch vom Zettel ablesen muß. Nebbich spricht sie davon, daß die Menschen im Osten ihre intensive Beachtung finden werden. Denn dort haben die Menschen endlich auch den Zusammenhang zwischen Ökologie und Ökonomie verstanden. Gute Frau Roth, wenn Sie sich mal nicht im Überschwange irren. Der Ströbele, der es geschafft hat, nahezu chancenlos direkt in den Bundestag gewählt zu werden, ist ein grünes Urgestein. Übrigens hieß eine seiner Parolen Ströbele wählen – Fischer quälen. Es dürfte Fischer nicht recht sein, daß Ströbele in der Fraktion sitzt und weiter stänkert.

***

Nachtrag zur gestrigen Abenddiskussion mit E. und K.: Erst wurde es spielerisch vorgetragen: Der Osten könne sich endlich revanchieren für die Wahlen der Jahre 1990 und 1994. Endlich könne der Osten die Pleite mit Kohl wettmachen, indem er sich auf die Seite von Schröder und Fischer schlägt. Dann, plötzlich, legt K. los. Der Westen zahle ja nun schon ewig. Er selber habe mittlerweile 30000 Mark auf den Tisch geblättert. Meine Frau und ich sind zuerst verdutzt. Ob er denn nicht wisse, daß die DDR zuvörderst ausgenommen wurde wie eine Weihnachtsgans. Schätzungen gehen in die Billionen Mark – viel Geld fließe außerdem als Gewinn aus dem Konsum der Ostdeutschen in den Westen zurück. Zudem zahlten die Ostdeutschen auch Soli-Beitrag. Das weiß im Westen offenbar nicht jeder; auch die Klügeren nicht? Bis K. (E. hält sich zurück, ich glaube, sie hat eine Ahnung davon, wie unnütz diese Dispute sind) preisgibt, daß er ja auch in den Wohnungsbau im Osten investiert habe. Ohne finanziellen Erfolg. Als ich flapsig sage, das nenne man schlicht Fehlinvestition, und so richtiges Mitleid käme bei mir nicht auf … naja. Ein ungutes Ende des Wahlabends. Wir gingen nicht im Streit auseinander, aber mit dieser bizarren Nach-wie-vor-Gewißheit, einander irgendwie nicht zu verstehen.