Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 18. Juli 2005, Heft 15

Kopulation und Selbstkastration

von Kai Böhne

Mit fünfunddreißig will ich zwei, drei Tatzenhiebe veröffentlicht haben, die mir einen unkündbaren Platz in der Literaturgeschichte sichern«, gestand der sechsundzwanzigjährige Bernward Vesper 1964 seinem Freund Henner Voss. Dreizehn Jahre später erlangte Vesper mit seinem autobiographischen Romanessay Die Reise postum die sehnlichst gewünschte Aufmerksamkeit. Die Reise wurde zum Kultbuch der linken Szene und ein kommerzieller Erfolg.
Als Sohn des NS-Dichters Will Vesper wuchs er auf dem niedersächsischen Gut Triangel auf, absolvierte eine Lehre als Verlagsbuchhändler, studierte Germanistik, Geschichte und Soziologie in Tübingen und Berlin und betätigte sich als Kleinverleger. Als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes lernte er 1962 die Mitstipendiatin Gudrun Ensslin kennen. Beide verlobten sich drei Jahre später und hatten einen gemeinsamen Sohn, Felix. Die letzten beiden Lebensjahre vor seinem Suizid, im Mai 1971, arbeitete Vesper an seinem unvollendet gebliebenen Werk Die Reise.
Henner Voss und Bernward Vesper teilten sich bereits 1961 an der Buchhändlerschule in Rodenkirchen bei Köln mehrere Wochen ein Zimmer. Als Voss im Herbst 1964 nach Berlin kam, um für eine Verlagsauslieferung zu arbeiten, zog er zu Vesper in dessen kleine Wohnung in Kreuzberg. Durch das enge Zusammenleben erfuhr Voss die permanente Zerrissenheit Vespers, zwischen dem fortwährenden Bestreben im Literaturbetrieb Beachtung zu finden und dem Gefangensein in repressiver Familienbiographie und quälenden Selbstzweifeln, hautnah.
Schon in Rodenkirchen hatte Vesper Alkohol gegen Schüchternheit und Dysthymie eingesetzt. »Fünf sechs Gläser räumten seine sämtlichen Hemmschwellen ab.« So kam es bisweilen zu kuriosen Erlebnissen, wenn Vesper seinem Freund zuraunte: »Trink aus und mach dich auf einen hastigen Abgang mit anschließender Jogging-Einlage gefasst,« um kurz darauf den Wirt zu beleidigen und die Kneipe im Laufschritt zu verlassen – aber auch zu peinlichen Vorfällen, wenn Vesper einen anderen Gastwirt im Gespräch nach »ein paar Serviererinnen mit massig Holz vor der Hütte« fragte, »die mein Freund und ich flachlegen können«.
Voss’ aktuelle Veröffentlichung besteht aus offenen, sehr persönlichen Erinnerungen. Durch große Anteile wörtlicher Rede ist der Erzählstil unterhaltsam und lebhaft, so daß man den Alltag und die Bekanntschaften der beiden Männer plastisch nachvollziehen kann.
Besuche von Gudrun Ensslin lösten einen »radikalen Programmwechsel« in der Kreuzberger Männer-WG aus: die sonst üblichen Kneipentouren wurden eingestellt, Vesper wurde von »Ordnungs- und Hygienekollern« befallen und verlangte, »solange Gudrun hier ist, sollten wir« die Wohnung von Alkohol säubern und »in ein Trockendock verwandeln«. Die Zusammenkünfte zwischen Ensslin und Vesper schildert Voss als arbeitsam und asketisch. Er habe die beiden »nie scherzend erlebt«.
Als Voss kritisierte, Vesper habe die Textsammlung Stimmen gegen den Tod entwertet, indem er Hans Baumann, einen Dichter der Hitlerjugend aufgenommen habe, gestand ihm Vesper, daß er mit Ensslin sogar an einer Werkausgabe der Schriften seines Vaters arbeite. »Mein Vater hat mich das versprechen lassen, es war ein Gelöbnis.«
»In der Gnosis gibt es eine asketische und eine orgiastische Ecke«, resümierte Voss, »Menschen, die sich selbst kastriert und andere, die öffentlich kopuliert haben. Vesper wieselte zwischen diesen beiden Nischen beständig hin und her.«
»Bernwards Briefe hatten oft Wärme«, schreibt Voss, der im Laufe der Jahre etwa zweihundert Briefe und Karten von Vesper und Ensslin erhielt, und bekennt, »ich habe ihn gern gehabt«. Von den erhaltenen Botschaften wollten Autor und Verlag exemplarisch ein gutes Dutzend veröffentlichen, »um Bernward eine Stimme zu geben«. Schade, daß dies am Einspruch Felix Ensslins gescheitert ist.

Henner Voss: Vor der Reise. Erinnerungen an Bernward Vesper, Edition Nautilus Hamburg 2005, 80 Seiten, 14 Euro