Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 4. Juli 2005, Heft 14

Holt nieder Flagge und Wimpel

von Philipp Eins

Berlin, Juli 2004. Schüler grölen, Lehrer applaudieren – die Aufmerksamkeit gilt Julian. Der Schulleiter hält für den frischgebackenen Abiturienten außer dem Examen eine weitere Auszeichnung parat: den Schülerpreis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Während der Feierlichkeiten sieht Julian bereits seinen zukünftigen Lebenslauf vor sich – bei der Bewerbung zur Offizierslaufbahn in der Bundesmarine ist er einer von rund 2000 Auserwählten. Die Grundausbildung hintersichbringen, danach Maschinenbau an der Bundeswehrhochschule in Hamburg studieren. Vor körperlichem Drill fürchtet sich der sportliche Julian nicht. Er freut sich auf seine Ausbildung.
Flensburg, vier Monate später. Aus dem Schlaf gerissen über zwanzig Kilometer in strömendem Regen marschieren, auf dem Rücken die komplette Feldausrüstung, inklusive Spaten und Gewehr, stellt für Julian die einzige sportliche Herausforderung dar. Karrieresüchtige Kameraden, die sich bei den Vorgesetzten profilieren wollen, sowie eine mangelhafte theoretische Schulung sind hingegen nicht nach seinem Geschmack. Der Enthusiasmus ist schnell verflogen, Julian fühlt sich unterfordert. Für ihn steht fest: Er wird die Ausbildung abbrechen.
Für den Rest seines Pflichtdienstes wird Julian auf ein Schnellboot abkommandiert. Dort sind etwa zwanzig Zeitsoldaten stationiert – außer ihm ist kein anderer Wehrdienstleistender an Bord. Hier bekommt Julian Einblick in das Leben eines hauptberuflichen Soldaten. Obwohl das Schnellboot in drei Monaten verschrottet wird und die Vorbereitungen dafür in vollem Gange seien sollten, verbringt die Besatzung den Tag zumeist mit Kreuzworträtsellösen und Kaffeetrinken. Drill und Disziplin der Ausbildung sind verschwunden, lediglich die rituellen Kontrollen lassen Erinnerungen wach werden. Einmal morgens, einmal mittags. Der Kapitänleutnant hat nie etwas zu bemängeln. Sorge bereitet ihm nur die Alkoholversorgung bei der abendlichen Skatrunde. »Bringt jeder sein Bier selbst mit, oder sollen wir für alle was kaufen?«, wird es Julian noch lange in den Ohren klingen.
Für den einzigen Abiturienten und ehemaligen Offiziersanwärter an Bord, den Wehrpflichtigen Julian, hat die restliche Besatzung nur Hohn und Spott übrig. Ein Kamerad versucht vergeblich, ihm eine Erkältungstablette als Zäpfchen gegen Radarstrahlung zu verpassen. Dies, so der Kamerad unter dem Gelächter der Kollegen, solle Julian langfristig vor Impotenz schützen. Für einen ehemaligen Offiziersanwärter hat an Bord keiner viel übrig. Und Zeit zum Mobbing bleibt genug. Julian bemerkt rasch, daß die Zeit für die Vorbereitung der Entsorgung des Schnellbootes von zwei Wochen auf drei Monate ausgeweitet worden ist. So bleibt noch genügend Freiraum, um die Hafenarbeiter auf ein ausgedehntes Mett-Frühstück einzuladen. Es zahlt der Staat.
Rund 1400 Euro Nettoverdienst, dazu weitere Zulagen für Nachtdienst, Einsätze an Bord und andere Vergütungen. Dies alles fürs Kaffeetrinken? Ich entschließe mich, bei der Pressestelle der Bundesmarine nachzufragen, und erhalte den repräsentativen Tagesablauf eines »Unteroffiziers der Verwendungsreihe 23, Bedienpersonal in der Operationszentrale«. Über den zusammengestellten Tagesplan kann Julian nur lachen. Von den sogenannten Abschnitts- und Zeugdiensten, die zusammen mit dem Bootsputz einen Achtstundentag ergeben sollen, wird nach Angaben des ehemaligen Offiziersanwärter in seiner Einheit maximal eine Stunde effektiv gearbeitet.
»Geräte prüfen, Tests durchführen und Seekarten aktualisieren: Das gab’s bei uns nicht«, erinnert er sich später. »Lediglich Reinschiff haben wir gemacht, ab und zu ein paar Handgriffe, die auf einem Schnellboot eben so anfallen. Mehr nicht.«
Abschnitte der Bundesmarine sind offensichtlich gnadenlos unterfordert. Die Marineleitung scheint um das Dilemma zu wissen, gibt sie doch in ihrem Werbekatalog offen zu, daß im Jahr 2003 die Besatzung von drei Schnellbooten kurzerhand zur Überwachung von US-Liegenschaften in Süddeutschland eingesetzt wurde – Aufgaben, die eigentlich vom Heer wahrgenommen werden sollten.
Mit gutem Gewissen wirbt das Bundesverteidigungsministerium für eine Senkung der Betriebskosten – jedoch, so das Kleingedruckte, gerade einmal um fünf Prozent bis zum Jahr 2008. Die Einsparungen sind natürlich keine Einsparungen; das Geld soll in militärisches Instrumentarium investiert werden.
Wie ein Halbstarker, der – von nicht vorhandener Männlichkeit geleitet –, das letztes Hemd für seine Kawasaki hergibt, verhält sich auch der Staat zu seinem Militär. Während jedermann im Lande gezwungen wird zu sparen, bleibt die Haushaltskasse der Bundeswehr gefüllt.