Von Morcheln und Reformen

von Elke Sadzinski

Die Morcheln, dachte Staller überrascht, als er das Tütchen mit dem getrockneten Inhalt in den Händen hielt. Im unergründlichen Hinterland des Küchenschranks hatten sie sich so lange versteckt, daß das Vorhaben, mit ihnen ein köstliches Mahl für die Freunde zu bereiten, in Vergessenheit geraten war. Staller, der seit längerem unter die Hobbyköche gegangen war, begeisterte sich erneut dafür. Nicht zuletzt, um wieder einmal mit seinen Kochkünsten zu pranzen. Gründliches Aufräumen hatte sich als sinnvoll erwiesen. Er steckte die Morcheln in den Küchenschrank zurück.
Hatte nicht gerade einer dieser Fernsehköche seinen Gast mit Morcheln begeistert? Das Rezept hatte sich Staller notiert, die Zutaten waren nicht billig. Der Kreis der Gäste schrumpfte in Stallers Vorstellung. Aufkeimender Geiz kämpfte mit schlechtem Gewissen. Ein Tütchen Morcheln setzt durchaus Grenzen, beschwichtigte er beides. Im Supermarkt fanden sich Hühnerschenkel, Sahne, Austernpilze, braune Champignons und dergleichen mehr. Im Spirituosenregal stand Sherry sweet und medium, nicht aber dry, wie ausgeschildert. Der aber war für die Sauce unabdingbar! Der eingeforderte Verkaufsstellenleiter ging der Sache auf den Grund, lag längere Zeit am Boden, um das ganze unsortierte Regal auszuräumen – und fand schließlich die letzte Flasche. »Ist die trocken genug?« fragte er Staller und hielt ihm die begehrte Ware vor die Nase. »Na bitte, geht doch«, entgegnete dieser ungerührt und schritt zur Kasse.
Einen ersten Termin hatte Staller wegen dienstlicher Obliegenheiten aufkündigen und die frischen Schenkel einfrieren müssen. Zu einem zweiten wurden sie wieder aufgetaut, als sich kurzfristig neue Widrigkeiten ergaben. Erneut abzusagen ging aber nicht und nochmal einfrieren schon gar nicht. Bringen wir es hinter uns, sagte er sich frustriert. Merkwürdig, diese Lust beim Planen und die Unlust bei der Durchführung, schoß es ihm durch den Kopf …
Staller ging gern generalstabsmäßig vor. Alles übersichtlich und griffbereit hinzustellen, war schon die halbe Miete. Da fiel ihm ein, daß die Morcheln mindestens drei Stunden weichen mußten. Das konnte knapp werden! Griff in den Küchenschrank – nichts. Wo zum Teufel hatte er sie hingestellt? Hektisches Herumrühren im Hinterland. Die Morcheln waren weg. Ausräumen des gesamten Trakts – sie blieben unauffindbar. Jähzorn stieg in Staller auf. Er wußte genau, daß er sie in den Schrank zurückgetan hatte. Und jetzt waren diese beschissenen Morcheln einfach weg? Vermutlich würde er sie eines Tages beim Auszug hinter dem Küchenschrank eingeklemmt finden.
Staller schoß zum Supermarkt. Ans Gewürzregal. Keine Morcheln! »Wo bitte finde ich getrocknete Morcheln?« herrschte er die nächstbeste Verkäuferin an. Diese stellte sich suchend vor das Gewürzregal. »Morcheln, wat soll’n dit sein?« »Pilze, getrocknete Pilze, gute Frau – und hier sind keine, das habe ich schon durchforstet«. »Nee, ick gloobe, dit ham wa nich, hab ick jedenfalls noch nie jesehn«, erwiderte sie und wandte sich ab. »Den Geschäftsführer bitte«, zischte ihr Staller hinterher.
»Womit kann ich Ihnen heute dienen?« fragte dieser, als er erschien. Staller merkte auf: Hörte er Häme? »Ich suche Morcheln und wünschte im übrigen, ihr Personal wäre besser über das Warenangebot ihres Ladens informiert«, fauchte Staller. Der Geschäftsführer ging in Richtung Asia-Food und kam mit einem Päckchen zurück. »Bitte sehr, der Herr, die Morcheln«, kam es kühl. Staller fetzte sie ihm aus der Hand, nahm verschwommen das Wort Morcheln wahr – und hatte auch schon die Kasse passiert.
Zurück an der heimischen Arbeitsplatte, griff er zur Brille: eigenartig sahen sie aus. Chinesische Morcheln stand auf der Packung, in Klammern Mu-Err-Pilze. Waren das nicht diese Dinger, die zu monströsem Format anschwollen? Staller wurde schwindlig. Nein, diesen Gedanken jetzt nicht zu Ende denken. Augen zu und durch!
Während die Pilze aufquollen, fand sich Zeit, die Wohnung zu reinigen.
Verschwitzt stellte sich Staller an den Herd, um endlich zu beginnen. Wie vermutet, waren die aufgequollenen Monster schwer im Topf zu bändigen und ergaben mit den Hühnerschenkeln hinreichend Füllung. Wie sollte da noch eine Flasche Sherry Platz finden? Egal, es würde sich durch Reduktion schon dezimieren, so daß auch noch die erforderliche Sahne Platz finden konnte. Er schmeckte ab. Doch ja, pikant – allerdings keine Spur von Morcheln. Wenn er die frischen Pilze jetzt gleich und nicht, wie es das Rezept vorsah, zum Schluß dazu tat, würden Pilzaromen dazukommen, das ganze konnte besser durchziehen und er Zeit sparen, sagte sich Staller. Außerdem fände sich Zeit für eine Dusche. Mittlerweile roch es verlockend, Staller hingegen etwas streng.
Frisch gefönt erschien er wenig später am Herd zurück und fuhr bei dessen Anblick zusammen. Die mit Aromen angereicherte Sauce hatte sich unter zu starker Hitzeeinwirkung über den Topfrand in die Herdmulde ergossen und war dort zu einer klebrigen Melasse geronnen. Im Topf verblieben waren Schenkel und Pilze, mit einer unansehnlich geronnenen Fettschicht bedeckt. Vom Sherry keine Spur. Staller entfuhr ein Klagen. In fünfzehn Minuten würden die Gäste erscheinen. Alles war versaut und keine Zeit für Korrekturen!
Was tun? Staller erinnerte sich seines Psycho-Seminars für Leitungskräfte. Wie reagiere ich im Ausnahmefall? Tief und gleichmäßig atmen, hatte er nicht vergessen, und eiskalt logisch denken.
Der Sherry war alle, Weißwein hingegen vorrätig. Schwups, war der Topf aufgefüllt, nun hurtig durchgekocht. Ein letztes Mal schmeckte er die fade Sauce ab, aber was fort war, blieb fort. Alle hinzugefügten Geschmacksverstärker besserten das Ergebnis nur unwesentlich, als es auch schon klingelte.
Mach die Not zur Tugend, raunte es in Staller. Man muß ja nicht ausdrücklich sagen, daß es Sherrysauce sein sollte. Und auch die Morcheln konnten unerwähnt bleiben. Hey, man muß dem Kind nur einen neuen Namen geben und behaupten, es sollte nie anders sein.
Die Gäste begaben sich erwartungsfroh an den Tisch. »Was gibt es denn?« »Coq au Vin!« tönte Staller, kleine Pausen zwischen seine Worte setzend. »Ach, hattest du nicht Morcheln und Sherrysauce erwähnt?« fragte eine Freundin erstaunt zurück. »Das mußt du falsch verstanden haben«, kam es entschieden. Staller füllte die Teller: »Nur die besten und frischesten Zutaten für euch!» »Und vor allem reichlich Pilze«, murmelte die zurechtgewiesene Freundin. Staller hatte es dennoch gehört. »Bocuse macht es ebenso«, warf er beiläufig ein.
Immer alles hoch genug anbinden, scheuen sie keine starken Argumente und nehmen sie so dem Gegner den Wind aus den Segeln, repetierte Staller stumm sein Seminar.
Die enthusiasmierten Gäste verstummten im Laufe des Essens. Das Prädikat »sehr interessant« wurde vergeben, und niemand begehrte Nachschlag. Statt dessen floß der Wein, und man wendete sich dem einigenden Lieblingsthema, der Politik, zu. Schließlich steigerte sich das Gespräch tumultartig, als man auf die Reformen der Regierung einschwenkte. »Da reißen die immer das Maul auf, was sie alles stemmen werden, und was kommt dabei heraus?«
Staller schraubte sich nach vorn: »Alles Pfuscher!« wischte er mit der Hand durch die Luft und lehnte sich zufrieden zurück.