Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 6. Juni 2005, Heft 12

… und Lea Rosh beerdigt einen Zahn

von Martin Nicklaus

Moshammer-Mord, Hoyzerskandal, Fürst Rainier und Juhnke sterben, Schumacher mit Reifenproblemen, Charles und Camilla heiraten und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Der Papst ist tot, es lebe der Papst. Rekatholisierung Deutschlands. Eigentlich sind nur ein Drittel der Deutschen gemeldete Katholiken. Die wahrhaft praktizierenden – eine Dunkelziffer. Doch ab jetzt gilt für alle: »Wir sind Papst«. These: Zur Abwechslung mal Luther ans Kirchentor nageln. Giordano Bruno würde sich im Grab wälzen, hätten ihn die Inquisitoren nicht eingeäschert, bei lebendigem Leibe. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Kritik des Kapitalismus jetzt selbst von seinen emsigsten Lakaien. Ein Heuschreckenvorwurf von einem, dessen Genossen reichlich Lockduft versprühten. Zauberlehrling nicht gelesen oder nicht verstanden? Sprachrohre des Kapitals verlieren ihre Contenance, sind »stinksauer«. Unvermeidlich: ein Nazivergleich. Theoriediskurse über die Kritik lenken Thema schließlich ins Philologische. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Arbeitsplätze schafft die Wirtschaft in Deutschland längst nicht mehr, komme, was da an Subvention und Gewinnen kommen mag. Warum auch, wenn die Verlagerung ins Ausland besser vergolten wird. Von den kapitalismuskritischen Heuschreckenanlockern. Wie Volk den Lug und Trug begreift, bringen die Beutelschneider Nebelwerfer in Stellung. Aufwand fünfzig Millionen Euro. 21 Leute könnten davon lebenslang zu vernünftigen Konditionen bezahlt werden. Aber wie gesagt, Arbeitsplätze schafft die Wirtschaft längst keine mehr. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Selbstentmachtung des Bundestages. Politbüroartige Zustimmung zur Europäischen Verfassung, gegen das Grundgesetz. Ein großer Tag für den Lobbyismus. Volksabstimmungen über derart Grundsätzliches sind in Deutschland weiterhin Pfui. Deshalb war eine öffentliche Diskussion über Inhalte der Verfassung überflüssig. Nun liegt alle Hoffnung bei den Franzosen. Wie 1789. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Auf einem ehemaligen Schlachtfeld steht ein Ministerpräsident. Sein Haushalt sieht ebenfalls aus wie nach der Schlacht. Worte entweichen ihm ohne Hirnkontakt: »Nie wieder Krieg von deutschem Boden.« Kosovo schon vergessen? Auch mit dem deutschen Boden ist das so eine Sache. Von Ramstein aus starteten gerade erst neulich die US-Bomber. Im Gepäck Bombenteppiche für den Irak. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Über acht Milliarden Liter Benzin verbrennen US-Amerikaner im Stau. Gefahrene Meter Null. Paul Virilios praktizierter Rasender Stillstand. Um den zu gewährleisten, rollte die amerikanische Kriegsmaschine über die Erde und tötet und tötet und tötet. Auf die Zählung afghanischer und irakischer Opfer wird großzügig verzichtet. Deshalb sind sie in der westlichen Wahrnehmung nicht existent. So braucht keiner beunruhigt sein. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
US-Soldaten erschießen einen italienischen Unterhändler. Ungeniert. Ein Versehen. Wie damals, bei der Seilbahn in Cavalese oder der DC 9 nahe Ustica. Italien – USA 0 : 3. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Ein tiefes Mißverständnis der Welt. Manifestiert bei einem mißlungenen Attentat auf Bush. Selbst bei Erfolg, was würde sich ändern? Wäre halt Cheney ganz offiziell am Ruder. Oder irgendein anderer. Die Politik bliebe gleich. Möglich, der neue Präsident spendierte Tiflis, ob seiner Amtseinführung ein Flächenbombardement. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Fällt in China ein Reissack um, wirbelt der Staub in der Wallstreet. Chaostheorie. Darauf beruht alle Börse. Fallen die Gefolterten, Mißhandelten oder Hingerichteten in den chinesischen Dreck, kräht kein Hahn danach. Wie sollten auch Hähne in der Nachbarschaft hungernder Menschen überleben? Merke: Handelsrecht sticht Menschenrecht, und Freiheit ist immer die Freiheit der Wirtschaft. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Siebziger Jahre. In meinem Schulbuch ein Photo: Arbeiter schaufeln auf hoher See Getreide über Bord. Märkte brauchen Preisstabilität. An den Ufern des Meeres verhungern Menschen. Heute ein Fortschritt Richtung Zynismus. Konferenzen gegen Armut gebären burleske Versprechungen im Kampf gegen die Apokalyptischen Reiter. Ergebnis: Hunger, Armut und Seuchen finden immer mehr Opfer. Nur Lebensmittel fliegen keine mehr ins Meer. Sie mästen hochsubventionierte Hühner und Rinder, die gefroren in Afrika verkauft werden. Verdrängen hier einheimische Ware. Folge: Afrikanische Cowboys und Züchter verlieren ihre Lebensgrundlage, ebenso ihre Zulieferer. Eine im wesentlichen agrarische Volkswirtschaft bricht vollends zusammen. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Tansanias Präsident Julius Nyerere fragte bereits Mitte der achtziger Jahre: »Müssen wir weiter unsere Kinder verhungern lassen, nur damit wir unsere Schulden zurückzahlen können?« Der IWF antwortet schweigend, durch konkludentes Handeln: »Selbstverständlich!« … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Am Ufer des Niger eine Überlegung: »Wird es eines Tages einen Nürnberger Gerichtshof für diese Leute geben?« Diese Leute meint die Söldner von IWF und Weltbank. Ein solcher Gedanke am Rhein geäußert, würde Verharmlosung des Holocaust genannt werden, sonst nichts. … und Lea Rosh beerdigt einen Zahn.
Gedenkmarathon. Sechzig Jahre dies, sechzig Jahre das. Betroffenheit in Familienpackung. Zum 8. Mai spricht Köhler zum Volk. Verfehlt das Thema weitestgehend. Ihm sind die Zettel anderer Jubiläumsfeiern dazwischengeraten. Wen kümmert’s. Über Deutschland nur die große Frage: Sind wir nicht alle ein bißchen Opfer? Aber bitte keinen Schlußstrich. Nur unbedingt auf die Linie achten, die offiziell zugelassenes Geschwafel vom geächteten Wort über wirkliche Verstrickung der Deutsche in den Holocaust trennt.
Und Lea Rosh beerdigt einen Zahn. Erst sollte der in eine Stele des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Paul Spiegel machtwortete dagegen. Seine größere Sorge: Beim Mahnmahl bleibt die Sesamstraßenfrage offen: »Wieso, weshalb, warum?« Die Antwort liefert das Kinderlied gleich mit: »Wer nicht fragt bleibt dumm!« Jawohl: Dumm bleiben! Aufklärung in den Zeiten der Globalisierung. Das ich nicht lache. Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten … Blablabla.
Lea Roshs Idee jedenfalls bleibt jenseits inszenierter Selbstdarstellung dunkel. Im jüdischen Kontext gemahnt sie an eine Stelle der Tora (3. Moses 24, 19-20) »Zahn um Zahn«. Totale Rache? Dem Ritual nach entspringt sie dem Buddhismus. Riesige Stupas beherbergen Zahnreliquien. Sie dienen Millionen Gläubigen als Meilenstein auf ihrem Pfad zur Erleuchtung. Das lohnt aufzugreifen. Wer noch gut zu Fuß, vergesse Rosh, Papst, Schumacher und mache sich schleunigst auf seinen Weg.