Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 20. Juni 2005, Heft 13

Mein Klassenbuch

von Eckhard Mieder

September 2002: Am 18. März 1990 wählte die DDR mit überwältigender Mehrheit die CDU und Helmut Kohl. Ich nicht. 1994 und 1998 wählte ich die PDS. Aus Trotz und Mitleid, obwohl ich ihren Vorgänger, die SED, 1988 verlassen hatte. Jetzt haben wir 2002. Morgen wähle ich nicht mehr in Berlin-Treptow, sondern im Dornbusch, Frankfurt am Main.
Ich weiß nicht, wen ich wählen werde. Das irritiert mich. Es ist, fühle ich, ein Unterschied, ob ich im gewohnten Ostberliner Umfeld mein Kreuz mache oder im »tiefen Westen«.
Hier spüre ich auch nach einem halben Jahr der Suche, des aufmerksamen Zuhörens und Fragens weder ein existentielles noch ein essentielles Interesse am Osten Deutschlands. Das, woher ich komme, woraus ich stamme, taugt allenfalls als immer mal wieder benötigtes Knüppelchen, um den Demokraten zu sagen, wie übel es im Osten zuging, wie gut es dem Westen gegangen ist und geht. Wen soll ich wählen? Oder gehe ich nicht hin? Das widerstrebt mir. Ich bin immer wählen gegangen.
Ich nehme mir vor, für das Jahr 2006 einer Ratlosigkeit vorzubauen. Ich werde ein Klassenbuch führen. Ich werde vier Jahre lang Eintragungen machen. Notizen über die Aktionen der Regierung und der Opposition. Begebenheiten in der Demokratie und in der Welt. Und wenn dann wieder die TV-Duelle stattfinden, wenn der Medienpuls hochjagt, Meinungsumfrage-Feuerwerke gezündet und Skandälchen aufgeblasen werden, wenn die Blasrohre mit den Giftpfeilen unter den Sesseln des Bundestages hervorgekramt werden – dann will ich in meinem Klassenbuch blättern und entscheiden. In Ruhe. Zu mir kommen.
Sonntag, 22. September 2002: Die BILD am Sonntag titelt: Letzte geheime Umfrage. Derzufolge kommen SPD und CDU/CSU gleich auf 37 Prozent und FDP und Grüne gleich auf acht Prozent der Wählerstimmen. 61,2 Millionen wahlberechtigte Bürger würden demnach am Abend, wenn die Wahlergebnisse bekannt werden, ein Remis herbeigeführt haben. Ein Kanzler-Krimi, verbunden mit der Frage Entscheidet Hitler-Affäre die Wahl? Aus dem Verbal-Fauxpas der Justizministerin Däubler-Gmelin – sie hatte in einer hitzigen Diskussion mit Gewerkschaftern den amerikanischen Präsidenten Bush mit Hitler beziehungsweise beider Methoden zur Bewältigung innenpolitischer Krisen gleichgesetzt – ist mittlerweile eine Hitler-Affäre geworden. Aus dem Weißen Haus wird von Bush’s Verschnupftheit berichtet. Powell zeigt sich empört. Der Sprecher der amerikanischen Regierung, Arie Fleischer, nennt den Vorgang unerklärlich. Die CDU/CSU-Opposition hat sich natürlich auf die SPD-Ministerin gestürzt und versucht, kurz vor der Wahl noch ein paar Punkte mit Angriffen und der Forderung nach Absetzung von Däubler-Gmelin zu machen. Ein widerliches Spiel. Allerdings handelt Frau Däubler-Gmelin meines Erachtens töricht. Wäre es nicht einfacher und verständlicher, den Vergleich einzugestehen, zumal mit Verweis auf die Hitzigkeit der Debatte? Würde nicht jeder Mensch, so er über einen Funken Anstand und Empathie und Lebenserfahrung verfügt, einsehen, daß es in politischem Disput durchaus zu allzu schnellen Vergleichen (der Verdeutlichung wegen) kommen kann? Oder hat die Political Correctness längst über Zivilcourage und Spontaneität gesiegt?

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Die Titelseite der FAZ-Sonntagszeitung ist in Blutrot und Schwarz getunkt. Die Schemen Stoibers und Schröders, über beider Männer Brust die Frage WER? Unter der Überschrift Von Raben, Schwalben, Geiern, Kranichen sind die Paßfotos der fünf Parteivorsitzenden gepinnt: Die Spitzenkandidaten der fünf aussichtsreichsten Parteien im direkten Vergleich. Ich erfahre, daß Schröder 190000 und Stoiber 243000 Euro im Jahr verdienen. Über das Einkommen Fischers gibt das Auswärtige Amt keine Auskunft. Westerwelle muß mit 84000 Euro nach Hause gehen. Außerdem liebe Schröder den Raben, Stoiber die Schwalbe, Fischer den Geier, Westerwelle Ente à l’orange und Gabi Zimmer den Kranich. Die Lieblingsgestalten sind wie folgt verteilt: Schröder favorisiert Struensee, Stoiber den Kolumbus, Fischer mag Diogenes, Westerwelle stehe auf Kaspar Hauser, und Gabi Zimmers Verehrung gelte Sokrates und seiner sehr gesprächigen Frau. Ich erfahre desweiteren die Hauptgenußmittel der fünf, ihr bevorzugtes Ferienziel (worin sie sich gleichen: Bei allen ist es Italien, nur Westerwelle erweitert auf Miami und Barcelona). Ich lese, was sie am meisten verabscheuen, was ihre Marotten sind und was ihre Lieblingsmusik. Will ich das alles wissen? Klaro. Es menschelt so hübsch.

Wird fortgesetzt.