Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 6. Juni 2005, Heft 12

Fata Morgana

von Ursula Malinka

An einem ersten schönen Frühlingsnachmittag fuhr ich auf einer schmalen Straße, die sich durch großflächige Felder schlängelte. Das erste Grün war das vom vorigen Jahr, die vorjährige Wintersaat. Ganz sanft stieg die Straße in dem sonst weiten, flachen Land an. Und dann sah ich es. Wie eine Fata Morgana oder ein Gebilde aus einem Science-Fiction-Film tauchte ein Konglomerat aus Rohren, Türmen und Würfeln auf und glänzte silbern und unwirklich vor einem Horizont aus Grün und Blau, aus Wiese und Himmel. Eine phantastische Skyline wie aus dem Nichts, ein ohne jeden Zweifel menschliches Werk. Welch ein Anblick!
In der hiesigen Gegend ist, wie auch anderswo, in den vergangenen fünfzehn Jahren fast alles, was nach Industrie aussah, verschwunden, und mit den äußeren Zeichen für Industrie auch das damit verbundene Leben, die Arbeit in einem richtigen Betrieb, eine Struktur um die Industriebetriebe herum, tangierende Wirtschaft und soziales Leben. Was nicht gänzlich liquidiert wurde, fiel der westdeutschen Konkurrenz für die symbolische 1 Mark zu, um später geschlossen oder mit höchstens zehn bis fünfzehn Prozent der Beschäftigten weitergeführt zu werden.
Aus Industrieflächen, die ehemals mehreren tausend Menschen Arbeit boten, sind Industriebrachen geworden, die heute wie Grünanlagen aussehen. Geblieben sind Miniunternehmen, die den neuen Mittelstand verkörpern und das klassische Rückrat der Wirtschaft zu einem Sorgenkind degradieren. Die ehemals stolzen Industriearbeiter finden sich nun in Minijobs oder gar in Ein-Euro-Jobs. Sie sind zurückgeworfen auf ein Leben mit Almosen sowie der Angst vor Armut. Und nichts kann sie davor bewahren, denn ihre Industriearbeitsplätze gibt es nicht mehr. Sie wurden hoffnungsfroh für Gewerbegebiete und Einkaufsparks eingeebnet. Doch den Gewerbegebieten fehlt der entscheidende Motor für eine vielseitige Wirtschaftsentwicklung: die Industrie.
Es ist ein Irrglaube zu hoffen, die zunächst beschworene Dienstleistungsgesellschaft, dann die Informationsgesellschaft und nun gar die Wissensgesellschaft könnten in absehbarer Zeit die Sphäre der wertschaffenden Industrie ablösen. Die sogenannte Arbeitsgesellschaft ist seit dreißig Jahren in der Krise. Die Technik und die damit verbundene Produktivität haben ein Niveau erreicht, auf dem der arbeitende Mensch zunehmend überflüssig wird.
Aber nicht geändert haben sich die Vorstellungen darüber, wie die Menschen zu ihrem Lebensunterhalt gelangen sollen: nach wie vor durch Erwerbsarbeit. In diesem Punkt gibt es bislang keinen Paradigmenwechsel. Anerkannte, gut bezahlte Erwerbsarbeit hat sich stetig vermindert. Notwendige, nicht so gewinnbringende Arbeit wird privatisiert, individualisiert oder ins Ehrenamt gedrängt und damit dem Range der Erwerbsarbeit völlig enthoben. Öffentliche Aufgaben werden privatisiert und den Marktgesetzen unterworfen, die als unausweichlich ihre Wirkung entfaltende Naturgesetze betrachtet werden.
In der westdeutschen Großindustrie und im Handel, beide durch satte Gewinne verwöhnt, die ihnen die Deindustrialisierung und der Zuwachs an Konsumenten im Osten Deutschlands bescherten, reibt man sich verwundert die Augen. Denn nach fünfzehn Jahren ist endgültig Schluß damit. Die Binnennachfrage sinkt bundesweit seit einigen Jahren. Auf den Handel hat das längst durchgeschlagen: drei Jahre in Folge zurückgehende Umsätze und Gewinne, nicht mehr wettzumachen mit Personalabbau. Die Großindustrie Deutschlands macht ihre Geschäfte schon lange im Ausland; global gibt es noch genügend Nachfrage, noch. Mittlerweile fliehen selbst die Finanzdienstleister, wenn sie nur groß genug sind, den deutschen Markt.
In der deutschen Marktwirtschaft, wo per Definition kein Platz für Klassenkampf ist, es aber für den Abbau des sozialen Aspektes täglich neue Vorschläge, Wünsche und Forderungen gibt, ist festgeschrieben, wie die Rollen verteilt sind. Da gibt es die Guten, die Leistungsträger, die Unternehmer, die Arbeitgeber. Und es gibt die nicht ganz so Guten, die nicht selbst etwas unternehmen, niemandem Arbeit geben, keine Leistungsträger sind – die Arbeitnehmer. Ihre Aufgabe ist es, ihre Arbeit, ihre Arbeitskraft herzugeben und etwas zu leisten – maßgeblich für die, die ihnen dies ermöglichen, und die deshalb die Guten sind. Doch die Zahl derer, denen selbst das Arbeiten für den Profit der anderen verwehrt ist, hält sich seit Jahren auf ungebrochen hohem Niveau. Sie erbringen keine Leistung, weder für die Unternehmer, noch für sich selbst. Und jeder, auch im Westen, der nicht innerhalb eines Jahres wieder eine Arbeit ergattert, fällt in den regierungsamtlich geschaffenen Sozialfallstatus – ins Arbeitslosengeld II, wie das beschönigend in der Agenda 2010 und Hartz IV genannt wird.
Die eingangs beschriebene Fata Morgana war keine, sondern einer der wenigen, unabhängig vom Westen neuentstandenen Industriebetriebe nach der Wende. Wenn es davon nicht bald mehr gibt, für eigenständige Wirtschaftskreisläufe und eine neue Urbanität im Osten, stagniert der Osten nicht nur, sondern retardiert zur Greisenzone auf niedrigem materiellen Niveau. Abwanderung und die Abwärtsspirale bei den Geburten seit 1991 tragen langsam ihre negativen Früchte: Wohnungsleerstand, Abriß zigtausender Wohnungen, Schließung von Schulen und Kindereinrichtungen, Entlassung von Lehrern und so weiter. Ganz Ostdeutschland eine Fata Morgana – oder ein Alptraum, je nach Standpunkt des Betrachters.