Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 6. Juni 2005, Heft 12

Der Tramp

von Eckhard Mieder

Auf dem Parkplatz der Raststätte Hermsdorfer Kreuz spricht er mich an. Ob ich in Richtung Frankfurt fahre. Unterwegs sage ich dem mageren jungen Mann von etwa dreißig Jahren, daß ich noch am Überlegen sei. Einerseits möchte ich nach Hause. (»Zweieinhalb Jahre lebe ich in Frankfurt am Main, und ich sage nach Hause! Was ist los mit mir, Johannes Tütenholz, Freund meiner Jugend und Begleiter meiner frühen Sünden? Fange ich etwa an, Heimatliches zu fühlen in der kalten Fremde«, frage ich nach innen.) Andererseits böte es sich an, hundert Kilometer vor Frankfurt die Autobahn zu verlassen. Ich könnte den Heimweg mit einer Recherche verbinden. Im Dorf K. bin ich lose verabredet mit der Nachbarin eines Mannes, der erst seine drei Töchter mit Chloroform im Apfelsaft betäubt, ihnen die Plastiktüten über die Köpfe gezogen und dann sich selber in die Scheune gehängt hat. Nicht, ohne vorher eine frische Hose und ein frisches Hemd angezogen zu haben. Die Frau des Mannes sei mit einem anderen Mann, der wiederum ein Freund des Gatten gewesen, durchgebrannt. Von dem habe sie Zwillinge bekommen und klage nun auf Schmerzensgeld. Denn der Mann, also der Mörder, der auch ein Selbstmörder ist, hat eine Mutter und eine Schwester, die noch leben. In Wiesbaden.
Der Bursche neben mir schweigt und schaut starr durch die Windschutzscheibe. Natürlich habe der Rechtsanwalt, fahre ich fort, welcher die Interessen des Mörder-Vaters und dessen Schwester und Mutter vertritt, die Klage zurückgewiesen. Denn das Schmerzensgeld hätte nur vom Mörder der drei Töchter verlangt werden können. Der habe sich aber auch umgebracht. Geplante, saubere Arbeit, ein korrekter Arbeiter bis zuletzt.
Der junge Mann regt sich sacht. Seine Rechte krampft sich in die Linke. Er könne sich entscheiden. Entweder mache er den Umweg über K. mit. Wo diese ganze irre Geschichte spielt, nur deshalb habe ich so weit ausgeholt. Oder ich schmeiße ihn vorher raus.
Wir schweigen die nächste halbe Stunde. Ich habe mich so wenig entschieden wie er. Es ist Freitag, später Nachmittag, K. würde ich zu gutbürgerlicher Abendbrotstunde erreichen. Fiele ich nicht in eine Familie ein, die eher auf das Wochenende eingestellt ist als auf das Erzählen einer schändlichen Bluttat im Nachbarhause?
Inzwischen hat der Tramper Mut gefaßt. Im Kofferraum liegt, erinnert er sich, keine blutige Axt. Als er den Rucksack hineinwarf zum Six-Pack Berliner Pilsner. Vielleicht, daß er in mir einen redseligen Alkoholiker sieht? Er bittet mich um eine Karte. Er schaut nach, wo dieses K. liegt und welcher Parkplatz oder welche Raststätte für ihn in Frage käme, entschiede er sich für den Ausstieg aus dieser Geschichte.
Soll er. Ich rede weiter. Vor mich hin, weil ich mir nicht im Klaren bin über einen Mann, der seine Kinder tötet und sich selber. Was für einer ist das, der in seinem Abschiedsbrief schreibt, daß er schon in der Hochzeitsnacht davongelaufen war: Ich habe es dir bis heute verheimlicht, aber ich muß jetzt endlich mein Schweigen brechen. Es lastet seit zehn Jahren auf meiner Seele. Ein eiskalter Wind trieb mir Schneegrieseln ins Gesicht. Ich lief zum Rhein und zog die Jacke aus. Ich wollte einfach erfrieren. Ich habe es schließlich nicht übers Herz gebracht.
Was für einer ist das? Was ist das für einer, der nicht über seine Emotionen reden kann, weil er entweder niemanden hat oder Stolz gelernt hat. Indianer weinen nicht. Einer von denen, die von der Mutti zur Frau ziehen und nicht klar zwischen Mutti und Frau unterscheiden können?
Und dann kriegen diese Helden Kinder. Und dann gibt es Eifersucht, Liebeskummer, Untreue und alle diese Zutaten einer Ehe, auf die so einer wie dieser, Chemiker war er, Analytiker, nicht »vorbereitet« ist.
Der junge Mann neben mir schaut mich das erste Mal von der Seite an. So Psychisches interessiert ihn. Er selber, fängt er zu erzählen an, er habe vor Jahren an einer Neurose gelitten. Genaueres sagt er nicht.
Die habe er in den Griff gekriegt, er habe therapeutisch sehr viel über sich erfahren. Jetzt war er bei seiner Schwester, berichtet er zügig weiter, sie mache Schmuck aus Holz. Die sei nun gänzlich psychotisch. Sie verfolge den Mann, der sie verlassen habe. Genaueres sagt er nicht.
Er wolle nach Frankfurt, weil er seine Schwester nicht länger ausgehalten habe. Seiner Mutter, die in Frankfurt wohnt, überläßt er seine Wohnung in Berlin, dafür zieht er in die Wohnung seiner Mutter. Vorübergehend. Ich bin nicht überrascht, als er preisgibt, daß sowohl seine Mutter als auch sein Vater Psychiater waren. Jetzt pensioniert und geschieden, Vater lebt im spanischen Ferienhaus. (»Frankfurt, mein lieber Tütenholz, also Frankfurt mag ja die Hauptstadt des Kapitals sein«, flüstere ich nach innen, »aber es ist vor allem auch die Hauptstadt der Therapeuten; aber davon werde ich dir noch manche Geschichte erzählen, mein lieber Scholli, du!«)
Als er sagt, er studiere Soziologie, rutscht mir ein »Aua!« raus. Brotlose Kunst, glaube ich, oder? Claro, das wisse er. Er verdiene sich zur Zeit Geld in der Altenpflege, und was er nach dem Studium machen wird, weiß er noch nicht. Macht nichts, er wird dann Mitte Dreißig sein, und irgendwann sterben die Eltern und hinterlassen.
Leider werde ich wütend. Ich werde immer noch zu schnell wütend. Vom idealistischen Jungkommunisten zum angepaßten Kleinbürger in Frankfurt-Dornbusch – ich müßte doch (oder, Johannes?) gelassen sein? Wieso gehen mir, dem Dritte-Weg-Idealisten von einst und gelehrigen Neumieter des Kapitalismus, diese Burschen so auf die Nerven? Diese Jungs, deren Eltern von Hausbesetzern zu Kanzleibesitzern geworden sind? Diese Zöglinge eines Milieus, in dem gerne beim Wein davon erzählt wird, daß man noch heute den Demo-Rucksack im Schlaf packen könne? Diese Nachfahren der Pflasterstrandbewohner und Grünen-Wähler und Grünesser, die Immobilchen hier und Immobilchen da erben werden und bis dahin stuuuudieren, was der Joint hergibt? Sanfte Neurosen, blühendes Leiden … (»Aber«, mahnt Freundchen Tütenholz an, »du bist nicht besser als die, wenn du dich gehenläßt! Dein Weg aus der mongolischen Askese in den Brechreizüberfluß – willst du ihn nicht zu Ende gehen? Willst du dich selber auslöschen, deine Familie gar …« »Was redest du, Tütenholz, du Kackbratze?!«)
Wir sind nicht nach K., sondern schnurstracks nach Frankfurt gefahren. Ich habe meinen Beifahrer im Frankfurter Westend abgesetzt und bin zu Frau und Kind geeilt. Alles gesund, alles paletti.