Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 23. Mai 2005, Heft 11

Von der Abkehr zur Rückkehr

von Mieczyslaw F. Rakowski, Warschau

Seit einiger Zeit sprechen Spitzenpolitiker der noch regierenden SLD von der Notwendigkeit, zu linken Wurzeln und Werten zurückzukehren. Wenn von einer Rückkehr die Rede ist, so deutet das daraufhin, daß es einmal eine Abkehr gegeben hat. Ich bin der Ansicht, daß ich als einer der ältesten unter den Linken (soweit ist es gekommen!) nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht habe, den Führern der SLD zu helfen, den Weg zur Umkehr zu finden.
Nicht lange nach der Regierungsübernahme durch die linke Partei bereits im Jahre 1993 war der einfache Mann von der Straße, der Tag für Tag mit der Wirklichkeit konfrontiert war, Zeuge, wie diese Partei die Wirtschafts- und die Sozialpolitik fortsetzte, die zuvor von den Neoliberalen inszeniert worden war. Wie absonderlich es auch klingen mag: In der Praxis bedeutete das, daß die SdRP ihren Beitrag beim Aufbau des Kapitalismus leistete und damit den jetzigen Zustand des Landes sanktionierte. Das war ein Ereignis von historischem Ausmaß. … Eine linke Partei in Polen anerkannte ohne den geringsten Widerstand die Überlegenheit des Privateigentums über alle anderen Eigentumsformen sowie die daraus sich ergebenden gesellschaftlichen Konsequenzen.
Deshalb war es nur logisch, daß sie sich der Liquidierung des staatlichen Eigentums – das faktisch Nationaleigentum war – und auch der Liquidierung des genossenschaftlichen Eigentums nicht widersetzte, obwohl die beiden Eigentumsformen und insbesondere die zweitgenannte, bereits lange vor der Machtausübung durch die »Kommune« existiert hatten. Die Mitte-Links-Regierung setzte die Politik der umfassenden Privatisierung fort, obwohl es nicht der Kenntnisse eines Philosophen bedurft hätte, um vorherzusehen, daß dies ein Quell der Bereicherung für eine schmale Schicht sein würde. Zuerst kamen die besten Fabriken unter den Hammer. Heute ist von vielen dieser Werke keine Spur übrig geblieben. Ein Blick in die Industrieregionen – und man stößt überall auf verwüstete Fabrikhallen. In eine schwächer entwickelte Industrie zu investieren, hatte das westliche Kapital verständlicherweise kein Interesse. Hand in Hand mit der Übernahme der Fabriken ging der Prozeß des Übergangs der Banken in fremde Hände. Drei sind bislang noch geblieben; aber auch sie werden von fremden Händen übernommen werden. Oftmals überlege ich, was heute der Begriff »polnische Volkswirtschaft« bedeutet. Das Auslandskapital wird in den Massenmedien (die in der Regel durch westliche Medienhaie beherrscht werden) als der größte Schatz und eine Rettung für Polen dargestellt.
Die Führer der SdRP und nachfolgend der SDL zeigten sich von den sich vertiefenden Unterschieden in den Besitzverhältnissen ungerührt. Diese Polarisierungen sind im Kapitalismus zweifellos selbstverständlich; aber die Bereicherung einer kleinen Gruppe von Leuten im Eilzugtempo, hätte die Reaktion einer linken Partei hervorrufen müssen. Doch eine derartige Reaktion von SdRP beziehungsweise SLD konnten weder die »Enterbten« – damit meine ich die Millionenarmee der Arbeitslosen – noch seriöse Forscher feststellen, die den Gang der Ereignisse in Polen verfolgten. Es gab sie nicht. Markenzeichen der gesellschaftlichen Position wurde Ihre Heiligkeit das Geld. Die Reprivatisierung, das heißt die Rückübertragung der nationalisierten Besitztümer im Namen der Wiedergutmachung historischer Ungerechtigkeiten an ihre Eigentümer, wurde ebenfalls durch die linke Partei akzeptiert, obwohl ein großer Teil dieser privaten Besitztümer nach den Zerstörungen durch die Kriegsereignisse durch die Leistungen des gesamten Volkes wiederhergestellt worden war.
Es ist verständlich, daß – wenn man sich den neoliberalen Rock anzieht – auch die Sozialpolitik und die Gesellschaftspolitik diesen Ausprägungen folgt. Bereits zwischen 1993 und 1997 wurden die Bürgerrechte verfälscht, indem die journalistischen Knappen der Neoliberalen den verleumderischen Anwurf verbreiteten, daß der Fürsorgestaat ein Überbleibsel der Volksrepublik sei und damit Schluß gemacht werden müsse. Was auch erledigt wurde. Davon zeugt heute die erschreckende Armut, zeugen die Not und die Lage der anwachsenden Arbeitslosenarmee. Es ist kein Zufall, daß die Sehnsucht nach der Gierek-Zeit eine soziale und politische Tatsache ist …
Eine natürliche Folge der Politik im ersten Jahrzehnt des Aufbaus des Kapitalismus war die Verwandlung Polens in ein Eldorado für die Plünderer des Nationalvermögens, für den ganzen Schwarm üppig bezahlter ausländischer Berater, deren Kenntnis von Polen und insbesondere von dessen Wirtschaft gleich Null war, für Spezialisten zum Ausschlachten verkaufter Fabriken, für Mittelsmänner – der Teufel weiß, für wen sonst noch alles. Die Neureichen gewannen an Einfluß. Leider erfaßte die Gier, sich zu bereichern, nicht nur einen Sozialdemokraten.
Als beiläufige Folge des Umstands, daß die Linke auf eine eigene Vision des Gesellschaftsaufbaus verzichtet hatte, antichambrierten führende linke Politiker beim neuen Geldadel, um der Salons für würdig gehalten und in die entsprechenden Kreise aufgenommen zu werden. Niemand meint, daß sie hätten zerlumpt gekleidet sein und einen Polonez fahren sollen. Aber als einer von ihnen öffentlich bekannte, er verbringe seinen Urlaub am liebsten auf einer Safari bei der Großwildjagd – er sagte es zu einer Zeit wachsender Not im Lande, wo die Mahlzeiten in Sozialminister Kurons Suppenküchen bereits für viele die einzige Nahrung darstellten –, wurde offenbar, daß wir es hinsichtlich der Sorge um die ethischen Grundfesten der Linken mit einem Fäulnisprozeß zu tun haben. Dabei will ich gar nicht an die Vorliebe führender Politiker erinnern, auf prangenden Empfängen, auf Bällen, auf Abendempfängen und Weihnachtsfeiern zu glänzen, denn das wäre banal.
Auf jeden Fall war es seit einigen Jahren nicht besonders schwierig festzustellen, daß die Partei in eine Richtung abtrieb, die für ihre Zukunft bedrohlich werden würde. Spätestens seit der ersten Regierungsperiode 1993 bis 1997 nahmen Selbstzufriedenheit, Aufgeblasenheit und Standesdünkel zu. Notabene waren diese unglückseligen Laster eine der Hauptursachen für die Niederlage bei den Wahlen 1997. Die zur Schau getragene Selbstgefälligkeit der Politiker der SdRP war einfach nur noch abschreckend.
Die führenden Politiker der SLD, die meisten von ihnen waren bereits in den neunziger Jahren am Ruder, haben auch auf die Frage zu antworten, aus welchen Gründen – können doch nicht alle der Unwissenheit geziehen werden – sie sich von den reichen Traditionen der polnischen linken Bewegung abwandten, die doch mehr als einhundert Jahre zurückreicht … Die Geschichte wurde der Rechten überlassen. Ist das nicht eine Schande? … Das Verhältnis zur Vergangenheit kann hier lediglich als Thema aufgerufen werden. Die nach 1989 entstandenen linken Parteien sind Parteien ohne Vergangenheit. Jetzt, da allüberall die Rede von der Rückkehr zu den linken Werten, zu den Wurzeln ist, kann man aber an diesem Thema nicht mehr vorbeigehen. …
Rückbesinnung auf die Wurzeln, auf die linken Werte, ist dringend notwendig. Aber vorab muß eine sorgfältige Analyse der Ursachen für die Abkehr von ihnen erfolgen. Was waren die Ursachen dafür, daß eine Partei, die vor fünfzehn Jahren als Hoffnung der Linken gegründet worden war, sich in eine liberaldemokratische Partei verwandelte? Mutig muß man sich und jenen, denen die SdRP und die SLD anvertraut war, sagen, daß die Konzeption einer Partei, die sich an die vorgefundenen Gegebenheiten angepaßt hat, Bruch erlitten hat. In dieser Situation ist es erforderlich, die Gründe für die Abkehr von linken Werten zu untersuchen, warum auf die Verwirklichung einer eigenen gesellschaftlichen Vision verzichtet wurde, die bei Millionen den Samen des Optimismus hätte einpflanzen können.
Ich bin kein Ankläger. Ich glaube an den guten Willen der Funktionäre der SLD … Ich bin auch kein geborener Pessimist. Ich bedaure einfach, daß eine Chance vertan worden ist.
PS: Während des traditionellen Neujahrsempfangs der SLD 2002, einige Monate nach ihrem beeindruckenden Wahlerfolg, herrschte eine Stimmung, die sich heute nicht wiederholen würde. Aleksander Kwasniewski sagte, nachdem er an die ersten Jahre nach 1989 erinnert hatte: »Wir haben unseren Präsidenten, unseren Ministerpräsidenten, unseren Sejm-, und unseren Senats-Marschall; wir haben die meisten Abgeordneten und Senatoren, wir sind ein mächtige Partei.«
Und was wird die Linke in einigen Monaten haben?

Aus » trybuna«, 21. April 2005, gekürzt; aus dem Polnischen von Gerd Kaiser. M. F. Rakowski, jahrzehntelanger Chefredakteur der »Polityka«, ehemaliger Ministerpräsident und letzter Erster Sekretär der PVAP, ist heute Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift »Dzis«