Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 23. Mai 2005, Heft 11

Kurze Bacharacher Heimatgeschichte

von Eckhard Mieder

In den Weinbergen bei Bacharach sind wir allein. Die Hänge mit den Rebstöcken sind so steil, daß es mich schaudert. Ich stehe nicht gerne weit oben und schaue tief ins Tal. Der Schieferboden ist scharfkantig, ich wollte hier nicht arbeiten.
Der Ort liegt unter uns. Ich bin versucht, die Kirche rauszupflücken und ein Stück weiter einzusetzen. Oder zwei, drei Häuser zu tauschen. Vielleicht stecke ich auch eines der winzigen Spielzeugautos ein. Oder den Zug, der auf der anderen Seite des Rheins vorbeifährt. Oder die Schiffe auf dem Fluß. Reichlich Verkehr, obwohl es Sonntag ist. Die Landschaft ist zum Heulen schön, die Häuser von Hentschhausen sind es nicht. Warum sehen diese Heime aus wie aus Lego-Land? Liegt es am verbauten Material? Gibt’s einen Befehl, seelenlos zu bauen und nix alt werden zu lassen?
Ich könnte klingeln und fragen: He, welchen Job machen Sie? Warum bauen Sie das Haus hier? War es ein günstiger Vertrag, oder warum sieht das Haus so scheiße aus? Ich klingele nicht. Ich bin in meinem Leben noch nicht verprügelt, von keinem Hund gebissen und von keiner Polizei abgeholt worden. Ich brauche das nicht.

*

Dann treffen wir Oskar. Wir sind nach Bacharach heruntergewandert und in die Touristen-Hölle gelangt. »Sonntag, stell’ dir das mal vor, Tütenholz, alter mehliger Sack aus Ostberlin, Sonntag, da gerätst du aus der Einsamkeit der Weinberge in das Begängnis des Geldes! Die Geschäfte haben auf, alles drängt nach dem Kunden …« »Ja und?«, höre ich Johannes Tütenholz sprechen, meinen alten Freund im Geiste, der nie den Schritt gemacht hat aus Berlin-Niederschöneweide weg und hinaus in die schöne, knuddelige deutsche Heimat. Und weiter raunt er dunkel: »Du kannst nicht im Gelde leben und gleichzeitig frei von ihm sein.«
Oskar hat Maurer gelernt. Oskar war neunzehn, als er aus Koblenz eines Abends nach Hause kam und seine Mutter weinend antraf. Was denn sei. Er mußte, erzählt Oskar, anderthalb Stunden auf seine Mutter einreden, bevor sie gestand: Sie habe heute keine Milch bekommen.
Wie? Die Geschichte geht so. Oskar und seine Familie sind protestantisch. Sie gerieten 1945 nach Bacharach. Dort waren sie in der Glaubensminderheit. Und wenn »Fräulein Bauer« (katholisch) Milch austrug, dann waren die Hausnummern vor Oskar versorgt, dann kam Oskars Mutter, da wurde gesagt, die Milch sei alle, und dann kamen die Hausnummern nach Oskars Mutter, da wurde wieder Milch ausgeteilt.
Oskar, der Maurerlehrling, als er die Geschichte gehört hatte, besuchte »Fräulein Bauer«. Er ging ihr sogar an die Gurgel. Das Ergebnis seines handelnden Gerechtigkeitssinnes war: Fortan wurde seine Mutter höflich und zuvorkommend behandelt. Nicht nur mit der Milch, sondern auch in allen anderen Läden des Ortes. Es ist eine verkürzte Geschichte von Toleranz. Erzwungen mit ein bißchen Gewalt beziehungsweise Gewaltandrohung. Die Grenze ist fließend.

*

Oskar hatte über ein paar Jahre den Campingplatz am Rhein gepachtet.
Oskar hat so lustige, wahre, junge Augen, daß ich ihm alles glaube. Auch, daß er zwölf Menschen vor dem Ertrinken gerettet hat. Die Augen eines jungen Mädchen sehe er noch heute. Vor sich. Im Traum. Überhaupt. Er konnte genau abschätzen, ob jemand noch dreißig Meter weiter wegtreibt. Denn dann war er fort. Versunken im Fluß der Deutschen.
Und dann sagt Oskar das Wort Religionäre. Das seien die Menschen, die anderen Menschen das Leben schwermachen. Religionäre. Dieser Neologismus weht mich an. Legionäre. Fundamentalismus. Religion. Religionäre sind die Vertreter all der finster begründeten und grausam begangenen Kriege seit Bestehen der Menschheit. Hütet euch vor Religionären! Froh sei er drum, daß heutzutage nicht mehr geschieht, was seiner Mutter geschehen war. Oskar geht nach Hause. Bevor er geht, erklärt er noch, daß Frauen doch über einen geringeren Verstand verfügen als Männer. »Hätte sonst meine Frau mich genommen?«