Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 23. Mai 2005, Heft 11

Gedenken an der Saale

von Wolfgang Sabath

Das, was Julius Schoeps, Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums an der Universität Potsdam, über das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas sagte, könnte mühelos als Motto für die meisten Gedenkveranstaltungen zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus gelten: »Mit dem Mahnmal versöhnen sich die Deutschen selbst.« Das ist sozusagen eine Weiterentwicklung eines nicht neuen (aber nichtsdestoweniger zutreffenden) Bonmots von Henryk M. Broder, die Deutschen könnten den Juden den Holocaust nicht verzeihen.
Wenn in Berlin gedenkt, gedacht und gefeiert wird, muß die Provinz – ihren bescheideneren Möglichkeiten entsprechend – mitgedenken. Manchmal verschlägt es einen. Zum Beispiel nach Camburg an der Saale. Eine kleine, allerdings noch nicht sehr feine Stadt; jedenfalls sind die Fördermittel nicht auf Anhieb sichtbar. Es ist ziemlich heruntergekommen und spittelig. Ich kaufe die Ostthüringische Zeitung (OTZ).
In Camburg/Saale, lese ich darin, wurde »zum 60. Jahrestag« auf dem Friedhof ein Gedenkstein für den Soldaten Karl-Heinz Sohnemann »offiziell eingeweiht«. Ein heute 77jähriger ehemaliger Kamerad und Freund des fünfzehnjährig Gefallenen, derzeit in Nienburg an der Weser wohnhaft, habe sich viele Jahre darum bemüht. Nein, ich werde nicht darüber spotten; aber die Vokabulatur, mit der die OTZ damalige Geschehnisse verbal mehr verklausuliert als beschreibt, scheint mir doch bemerkenswert. Die Freunde waren, lese ich in dem Blatte, »1945 als Angehörige einer Internats-Eliteschule in Blankenhain/Thüringen noch zum Volkssturm eingezogen worden«.
Elite ist immer gut, Elite hört sich zu (fast …) allen Zeiten gut an; und gekoppelt mit »Internats-« bekommt das ganze einen Ruch von Hochanständigkeit: Internats-Eliteschule – das war doch was, denkt der nachgeborene OTZ-Leser. Und kommt in der Regel gar nicht auf dumme Gedanken, die da zum Beispiel Adolf-Hitler-Schule oder Napola heißen könnten … (Ein Priesterseminar wird’s ja wohl nicht gewesen sein.)
Natürlich wird der Tod des Fünfzehnjährigen nicht dadurch weniger tragisch, daß seine Eltern einstens angetreten waren, aus ihm einen Herrenmenschen machen zu lassen, doch sprachlich zu touchieren und so zu tun, als hätte dieses Sterben keinen Hintergrund, ist schäbig. Andererseits: Vielleicht ist es sogar ein gutes Zeichen, daß sich einer Schulzeit an derartiger Bildungsstätte (noch) nicht offen gerühmt wird, immer noch nicht, glücklicherweise. Da wird dann aus Adolf-Hitler-Schule oder Napola eben mal schnell die unverfänglichere »Internats-Eliteschule«.
Weiter im OTZ-Text: »Am Ostufer der Saale gerieten sie in einen Schußwechsel mit einer Einheit der aus Westen anrückenden amerikanischen Armee.« Das ist doch auch nicht schlecht: »gerieten sie in einen Schußwechsel«. Unsereiner wundert sich, daß der Autor nicht auf die Formulierung gekommen ist: … waren sie in einen Schußwechsel verstrickt. Vermutlich haben der Gefallene und sein Freund das geglaubt, was ihnen an der Internats-Eliteschule erzählt worden war, und wollten nun »am Ostufer der Saale« das Vaterland verteidigen. Ich bin mir darüber im klaren, daß ich mit derartigen Vermutungen auch total danebenliegen kann: Weil die Jungen gar keine Wahl hatten. Doch sie sind ja auch gar nicht das Problem – das Problem ist der OTZ-Redakteur.
Nach der Einweihung des Gedenksteins waren die Camburger zu einem Erinnerungsabend ins Heimatmuseum eingeladen, Thema: »Was passierte vor 60 Jahren in den letzten Kriegstagen in Camburg?« Ich zitiere: »Wie Margrit Herzog, Museumsleiterin, informierte, werde dazu Frau Rosel Anding erwartet. Die heute 80-jährige war 1945 bis zum Schluss Bürogehilfin auf der Gebietsführerschule der Hitlerjugend auf Burg Camburg.«
Da wird der Kollege OTZ-Redakteur etliche Bleistifte zerkaut haben, bei dem Versuch, die »Gebietsführerschule der Hitlerjugend« zu umgehen. Vielleicht hatte er sogar schon erwogen, Begriffe wie »Jugendseminar« oder »eine Schule« oder »Bildungseinrichtung« zu verwenden. Aber dann dachte er positiv: Die Museumsleiterin ist doch eine Offizielle, und er zitiert doch nur aus ihrer Einladung. Da wird doch keiner etwas dagegen haben können.
Ich trödele mit dem Wagen durch die Nester an der Saale, eines schöner und idyllischer und gepflegter als das andere. Besonders gepflegt und beblümt in jedem Dorf die Kriegerdenkmale, UNSEREN HELDEN. Die Deutschen haben sich versöhnt.