Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 9. Mai 2005, Heft 10

Die hundert Tage des Viktor Juschtschenko

von M. R. Richter, Kiew

Zeit also für ein erstes Resümee. Die Hauptpersonen der neuen ukrainischen Führung sind zum ersten Präsident Juschtschenko, der bisher im Ausland versuchte, die Ernte der »orangenen« Revolution einzufahren, zum zweiten die Premierministerin Timoschenko an den Schalthebeln der Wirtschaftspolitik und der ukrainische Schokoladenkönig Poroschenko, der als Chef des Nationalen Sicherheitsrates im Hintergrund die Fäden zieht. Die Bedeutung des Leiters des völlig umgestalteten Präsidialamtes, Staatssekretär Alexander Sinchenko, ist noch nicht ganz klar.
Schwerpunkt der ersten drei Monate im Amt war eindeutig die Personalpolitik. Fast lautlos implodierte im Parlament die frühere Regierungsmehrheit. Es waren zuerst die Abgeordneten mit Direktmandaten, die den Mantel in die neue Windrichtung stellten. Aber auch mancher Abgeordnete der nunmehrigen Oppositionsparteien entdeckte plötzlich seine Sympathie zu Juschtschenko. Die neue Opposition wird nunmehr von Janukowitschs Partei der Regionen und von der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei angeführt. Kommunisten und Sozialisten, die im Wahlkampf Juschtschenko mehr oder weniger offen unterstützten, haben ihre Position noch nicht gefunden, im außerparlamentarischen Kampf führt Frau Witrenko von den Progressiven Sozialisten und die slawophile Brüderschaft die Radikalopposition an. Es ist zu merken, daß sich alle politischen Kräfte bereits auf den Wahlkampf für die Parlamentswahlen im kommenden Jahre einstellen und an ihren Startlöchern graben.
Weniger lautlos vollzog sich die Auswechslung der Gebietsgouverneure durch Präsidialerlaß. Keiner, der sich im Wahlkampf 2004 für Janukowitsch aussprach, blieb auf seinem Posten. Gleiche Personalwechsel wiesen die neuen Gouverneure für die Chefs der Kreisverwaltungen an, welcher wiederum in den staatlichen Einrichtungen, ob Gesundheitseinrichtungen, Hochschulen oder ähnliches, Anhänger des vorherigen Regimes durch eigene Leute ersetzen.
Mittlerweile fühlt sich die neue politische Führung stark genug, führende Oppositionelle hinter Schloß und Riegel zu bringen. Als ersten traf es Herrn Kolesnikow, einen Oligarchen aus dem Donbass. Er ist einer der führenden Wirtschaftsmagnaten und gleichzeitig Vorsitzender des Donezker Gebietsparlamentes außerdem Anführer der Bewegung zur Förderalisierung der Ukraine. Ihm werden illegale Machenschaften bei der Privatisierung ehemaligen Staatseigentums, Erpressung bei der Aneignung von Aktienanteilen sowie Machtmißbrauch vorgeworfen. Unter ähnlichen Vorwürfen wurden weitere Persönlichkeiten aus der Ostukraine durch die Zentrale Staatsanwaltschaft vorgeladen.
Für die Menschen hier, die die Privatisierungen hautnah erlebten, dürfte klar sein, daß keine einzige ohne Unregelmäßgkeiten vor sich ging – man braucht sich nur anderswo umzuschauen. Und für jeden halbwegs politisch interessierten Zeitgenossen ist auch klar, daß die Aneignung des früheren Staatseigentums durch eine neue Elite, die in der Ukraine häufig mit der früheren Nomenklatura identisch ist, immer am Rande der Legalität, wenn nicht dahinter, erfolgte. Das hat die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals an sich. So denn bleibt abzuwarten, ob von dem Großreinemachen nur jene betroffen sind, die in Opposition zu Juschtschenko stehen oder ob die neue Regierung sozusagen flächendeckend vorgeht.
Dem zweite Schwerpunkt der Regierungspolitik widmeten die Medien allerdings weitaus mehr Aufmerksamkeit: den Auftritten Viktor Juschtschenkos im Ausland – vom Straßburger Europaparlament bis zum USA-Kongreß und zur Papstbeerdigung. Den Höhepunkt der neuen Außenpolitik stellt offenkundig die gemeinsame Washingtoner Erklärung von Bush und Juschtschenko dar, in der sich der ukrainische Präsident eindeutig der Globalstrategie der USA-Administration unterordnet. Im Inland wird die USA-freundliche Politik durch eine strikte russophobe Ukrainisierung gespiegelt. Die überwiegende Anzahl der Funkmedien sendet nur noch in ukrainischer Sprache, Russisch wird auf Ämtern nicht mehr zugelassen und in die Küchen der Wohnungen verdrängt. Nach einhundert Tagen wird es offenbar, daß die Machtübernahme im Ergebnis der »orangenen« Revolution eben doch nicht nur eine einfache interne Machtverschiebung zwischen nationalen Blöcken der Wirtschaftsmagnaten, sondern eine grundsätzliche politische Wende in der Ukraine darstellt – eine Wende hin zu einer antirussischen, in der Tradition der nationalistischen Bandera-Bewegung der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stehenden Politik.
Die Wirtschaftspolitik der neuen Regierung hat außer dem Schlagwort der »Reprivatisierung« noch keine klaren Konturen angenommen. Die Inflation erreichte im 1. Quartal fünf Prozent, vorrangig dem Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel geschuldet. Die Fleischpreise stiegen teilweise aufs Doppelte, auch Milchprodukte und Brot verlangen tiefere Griffe in die ohnehin nicht prall gefüllten Geldbörsen. Regierungschefin Julia Timoschenko beschuldigte in Funk und Fernsehen die Zwischenhändler der Preistreiberei, erwähnte aber nicht, daß eine ihrer ersten Maßnahmen die Erhöhung der Zölle für tierische Erzeugnisse zum Schutz der westukrainischen Produzenten war. Jetzt versprach sie eine staatliche Kontrolle von Profitspannen der Zwischenhändler. Naivität oder Populismus? Auf jeden Fall stieg das Ansehen der Premierministerin nach ihrer Ankündung staatlicher Preisfestlegungen.
Es ist augenscheinlich, daß zwischen Premierministerin und Präsident starke Meinungsverschiedenheiten über die ukrainische Wirtschaftsstrategie bestehen. Während der Präsident Investoren um keinen Preis verprellen will und nur von »etwa dreißig« Überprüfungen der bisherigen Privatisierungen spricht, hat die Regierung die »Reprivatisierung«, Frau Timoschenko sprach von über dreitausend Unternehmen, klar zur Hauptstoßrichtung erklärt. So sollen die Staatsanwaltschaften alle Privatisierungsaktionen der vergangenen zehn Jahre überprüfen, im Falle aufgedeckter Unregelmäßigkeiten sollen sie durch Gerichtsbeschluß aufgehoben werden, wonach diese Unternehmen neu zum Verkauf ausgeschrieben werden. Damit ist es wohl das Ziel Timoschenkos Politik, einerseits die Wirtschaftsmagnaten in Angst und Bangen und politisch gefügig zu halten, andererseits eigene Gefolgsleute mit lukrativen Firmen zu belohnen.
Offen zum Ausdruck kam der Machtkampf zwischen Premierin und Präsident mit Juschtschenkos Verbot der Reise nach Moskau, angeblich, um die Frühjahrsbestellung im Lande zu leiten. Timoschenko steht offenbar für die Interessen der nationalen Unternehmerschaft, Juschtschenko für die ausländischer »Investoren«. Eine Verschärfung des Konflikts ist – insbesondere angesichts der Parlamentswahlen im nächsten Jahr – wahrscheinlich.