Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 9. Mai 2005, Heft 10

Bombenbesuch in Hanau

von Eckhard Mieder

Im Technischen Rathaus gibt es eine Ausstellung über die Bombardements der Briten und Amerikaner auf die Stadt Hanau. An den Wänden hängen Luftaufnahmen der alliierten Aufklärung. Präzise Fotos von Einschlägen, Trichtern und qualmenden Anlagen. Es sind schöne, strukturelle, symmetrische Bilder. All die Quadrate, Linien, Kurven, das Flächige, besetzt mit Bahnhöfen, Flüssen, Schienen – die Stadt von oben, das Abstraktum, dem sich der Mensch enthebt. Losgelöst und frei.
Ich glaube, wäre ich damals ein Pilot gewesen und hätte eine der Mosquitos oder Lancasters geflogen – ich wäre zum Saint-Exepury Nr. 2 geworden. Das Sterben zu fern, kein Brandgeruch, kein brennendes Kind, das zu Tode stürzt und verschrumpelt, keine Asche, die staubt, und keine Leichenberge, die zusammengetragen werden – nein, kein Gedanke daran, mein Denken zielte nur auf den Sieg. Der Sieg über einen Teufel, der von vielen kleinen Teufeln in die Rolle Gottes gehievt wurde – aber da bin ich, der Pilot, der, mehr noch als jener Oberteufel da unten in seinem Bunker oder auf dem Obersalzberg, jetzt Gott ist. Ein Gott der Zerstörung … (»Halte inne, Freundchen«, höre ich mein alter ego, den Kindheitskumpel und Jungproletarier Johannes Tütenholz rufen, »Mieder, halte inne! Bleib sachlich, alter Solidarier!«)
Die Bilder sind gräßlich. Unter jedem der großformatigen Luftaufnahmen sind drei kleinere, querformatige Fotos angebracht. Sie zeigen, was auf dem Boden geschieht. Ein Splittergraben wird ausgehoben. Eine Straßenecke, noch unbeschädigt. Ein Schild weist daraufhin, daß eine Straße gesperrt ist. Wegen Leichenbergung. Wieder eine größere Tafel. Der Auszug einer Liste mit Namen und Angaben von Toten: Unbekannte Frau (Mantel mit Pelzbesatz, braunes Kleid, karierter Schal); unbekannte Frau (mit Unterwäsche und rötlichem karierten Mantel); Fritz Meisel (eine Geldbörse); unbekannter Junge, etwa 8-10 Jahre alt (rot-haarig, rotweiß gestreifter Pullover).
Hanaus Innenstadt wurde am 19. März 1945 zu neunzig Prozent zerstört, etwa 1700 Menschen starben.
Die Ausstellung sei eine Wiederholung, erklärt mir Roland G. Vor zehn Jahren habe sie das erste Mal stattgefunden. Gegen enormen Widerstand. Die Linken hätten protestiert, die Autonomen, die ihre Gesichter immer verhängen.
Herr G. ist ein stattlicher Mann, der sein Sächsisch nicht gänzlich verbergen kann. Was er gewiß auch nicht will. Es hat sich das Hessische reingefärbt. Später wird er mir erzählen, daß er 1984 in die BRD gewechselt ist. Als Dresdner. Er hatte dem damaligen Innenminister der BRD, Rainer Barzel, einen Brief geschrieben. In der Hoffnung, der würde ihm die Ausreise ermöglichen. Der Brief wurde abgefangen, Herr K. wurde gefangen und in Cottbus eingesperrt. Der Mann hat keinen Grund, einem wie mir, der für einen Film des Hessischen Rundfunks unterwegs ist, entgegenzukommen.
»Ich sage ihnen ehrlich«, macht er mir klar, »der Hessische Rundfunk ist ein tendenziöser Sender! Wie die über das Dritte Reich berichten …« Er meint parteiisch links oder kommunistisch oder eben zu einseitig für … Für wen? Für was?

***

Bevor ich Herrn G. traf, stand ich eine Dreiviertelstunde im Flur der Ausstellung und schaute einem automatischen Dia-Vortrag zu. Die Lichtbilder wurden auf die schief hängende Leinwand geworfen. Drei ältere Hanauer saßen davor und kommentierten die Fotos aus der Vergangenheit. Sie verglichen sie mit heute.
Einmal seufzte die eine der beiden alten Damen. Als Kind, erklärte sie, sei sie verschüttet gewesen.
Der mittelalte Herr, der hinter der anderen älteren Dame saß, versuchte, mitzuhalten. Aber er mußte schließlich zugeben, daß er zu wenig Ortskenntnis besitzt. Und auch ein bißchen jünger war als die Dame in Trümmern.
Auch dauerte es eine Weile, ehe ich begriff, warum die vier bis sieben deutschen Jungmänner türkischen Blutes in dieser Ausstellung waren. Sie gehörten zu dem ortsunkundigen Herrn, der ein Lehrer oder Betreuer war.
Vielleicht war der Besuch der Ausstellung und das Betrachten der Dias ein Teil des Geschichtsunterrichtes, vielleicht auch eine Jugendstrafe. Als der eine Knabe, hochgewachsen wie ein Basketballer und mit der Nase eines Henkeltopfes versehen, fragte, wie lange sie noch hier sein würden, antwortete der Veteran kalt: »Noch eine Weile.« Der Türkdeutsche drehte sich ab, verdrehte die Augen und meinte leise: »Geh ich raus.« Macht er. Guckst du? Nö. Auf der Treppe vor der Glastür, die Treppenflur und Ausstellungsflur trennt, sitzen schon zwei seiner Kameraden. Gucken die? Gucken net.
Herr G. positioniert sich. Er stehe hundertprozentig hinter dem Friedrich-Buch Der Brand. Es sei längst an der Zeit gewesen, über den Terror der angloamerikanischen Luftangriffe zu schreiben. Ich stehe vor ihm – leider bietet er mir weder einen Stuhl noch einen Kaffee an – und fühle mich hilflos. Ich finde es schwierig, zwischen Exzessen des Krieges, zwischen der Schuld der einen und der Gegenschuld der anderen, zwischen der wissenschaftlichen Lust, Waffensysteme zu erproben, und dem Leid der Menschen Punkte, Kommas, Fragezeichen zu setzen.
Aber ich verstehe Herrn G. durchaus. Lokalhistoriker sind Spezialisten fürs Heimelige. Die Ausstellung sei nicht entstanden, um einer historischen Wahrheit gerecht zu werden. Es gehe ausschließlich um die Luftangriffe und um das Sterben Hanaus.

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Im Besucher-Buch lese ich: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück, leider manchmal zu laut. Wo kann man in ihrer Ausstellung eigentlich lesen, wer die eigentlichen Verursacher des ganzen Leids sind? Gisela Klein, Frankfurt am Main. – Das Unrecht hat einen Namen – das Patriarchat. (ohne Unterschrift) – Zur Erinnerung an die Klassenkameradin Elvira Crass, die mit ihren Eltern umkam.

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Der Mann, der dezent im Türrahmen zur Bildstelle lehnt, steht als Erklärer zur Verfügung. Ein profunder Kenner der Stadt. Sein Kullerbäuchlein ragt in den Flur, und wenn eine Dame sagt, daß es Berliner Ulanen gewesen seien, die dereinst nach Hanau kamen, »hochgewachsene, schöne Männer«, dann kann er dazu nichts sagen. Er ist weder hochgewachsen noch Berliner. Aber ich. Aber ich sage auch nichts. Obwohl mein Bauch kleiner ist.
Die Gegend an der Lamboystraße sei vor dem Ersten Weltkrieg Krawattenviertel genannt worden. Wegen der Angestellten, die dort hauptsächlich wohnten. Die andere ältere Dame, die einst verschüttete, sagt: »Das hat sich gründlich gewandelt.« Da nickt die erste wieder.
Dann mischt sich der Erklärer ein und beschreibt eine Straßenecke. Das Dia zeige den Zustand um die Jahrhundertwende. Als der Bäuchling, ein sympathisches Bürogesicht, zur Verdeutlichung sagt: »In dem Haus wohnen die Autonomen jetzt!« – da entfährt es dem Lehrer-Betreuer, der stur sitzenbleibt, obwohl seine ihm Anvertrauten draußen auf dem Hof mittlerweile Zigaretten rauchen und möglicherweise über ihre seltsame Heimatstadt Hanau räsonieren (guckst du, Scheißstadt, nö?), da sagt er: »Ach, das total verwahrloste Haus!«
Später, als die Hand eines Piloten am Knüppel seines Bomber-Cockpits bildfüllend und sehr nahe zu sehen ist, sagt der Mann fachmännisch: »Au, jetzt löst er aus!«