Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 23. Mai 2005, Heft 11

Anwälte, Mediziner – Straßenkehrer

von Klaus Hart, Rio de Janeiro

Bei Rios Stadtreinigung bewerben sich über 300000 als Gari – Monatslohn 140 Euro. »So ein Straßenkehrerjob ist bei dieser Massenarbeitslosigkeit direkt ein Privileg«, sagt Rafael Lerner, Personaldirektor der Stadtreinigung Comlurb Rio de Janeiros. Den Ansturm auf seine neueste Ausschreibung hat er vorausgesehen. In nur wenigen Tagen bewarben sich auf nur 1200 Stellen über dreihunderttausend als Gari. Bis zum 27. Mai, wenn die Einschreibungsfrist endet, dürften es über vierhunderttausend sein. Laut Lerner ist die Erwerbslosigkeit »altissimo«, rekordhoch – »und sie nimmt laut neuester Statistiken weiter zu.«
»Die allermeisten Bewerber kommen aus den über 800 Elendsvierteln von Rio – doch auch diesmal werden wieder etliche Akademiker dabeisein«, betont Personaldirektor Lerner. »Vor zwei Jahren waren es sogar Anwälte, Lehrer, Mediziner und Journalisten, obwohl wir nur den Abschluß der vierten Grundschulklasse fordern.« Damals hatte die Stadtreinigung schon einmal Straßenkehrerstellen angeboten. Im Sambodrome, dem weltbekannten Schauplatz der Karnevalsparaden, standen 130000 Interessenten tagelang in kilometerlangen Schlange, um sich bei den provisorischen Büros der Präfektur registrieren zu lassen. Es kam zu Tumulten und Panik, Militärpolizei prügelte auf die Arbeitssuchenden ein, warf Tränengasgranaten. Schlecht fürs Stadtimage. Diesmal hat Lerner deshalb das Verfahren sicherheitshalber umgestellt – jeder kann sich per Internet oder telefonisch bewerben.
Über sechzig Prozent der brasilianischen Beschäftigten leisten im sogenannten Setor informal, dem informellen Wirtschaftssektor, de facto Schwarzarbeit, sie werden extrem schlecht bezahlt und haben keinerlei Rechte oder Ansprüche. Generell klagen auch die Brasilianer über zunehmend rauhere Umgangsformen im Arbeitsalltag, Entsolidarisierung, Mobbing, aussterbende Kollegialität. Brasilien ist ein beliebtes Experimentierfeld des Neoliberalismus, auch die europäischen Multis testen hier, wie weit man gehen kann. Rios Stadtreinigungsbetrieb allerdings gilt geradezu als Oase, er ist gut angesehen. »Die Bewerber wissen, daß sie bei uns anständig behandelt werden, daß wir absolut pünktlich zahlen, was nicht allgemein üblich ist«, stellt Personalchef Lerner heraus. »Unsere Straßenkehrer bekommen Frühstück und Mittagessen gratis, wir zahlen auch die Fahrtkosten – das ist gerade für Slumbewohner ein ganz wichtiger Vorteil.«
Im Juni sind die wochenlangen Aufnahmetests. Wer von den über dreihunderttausend zu dick oder zu dünn ist, zu schwache Muskeln hat, bei Wettlauf und Liegestützen schlecht abschneidet, hat keine Chance. Zum praktischen Kehrtest treten dann nur noch an die siebentausend Bewerber an. Rios Garis tragen eine blitzsaubere orangerote Uniform und sind damit im Straßenbild Rios ein Blickfang. Sie werden von den Touristen viel fotografiert. »Unsere Straßenkehrer mögen ihre Arbeit, sehen sie keineswegs als minderwertig an.«
Und der Lohn? Monatlich umgerechnet gerade 140 Euro. Die Miete für eine einfache Ein- bis Zweizimmerwohnung außerhalb der Armenviertel kostet das Zwei- bis Dreifache, aber für ein einigermaßen brauchbares Fahrrad, einen Radiorekorder würde der Lohn reichen. Doch Straßenkehrer haben gewöhnlich Familie, müssen mit dem Lohn nur zu oft vier, fünf und mehr Personen miternähren. Der Job bei der Präfektur rettet sie vor der Misere, holt sie aber nicht aus der Armut. Der Run auf die Straßenkehrerjobs von Rio ist in Brasilien keine Ausnahmeerscheinung. Landauf, landab passiert etwas ähnliches alle paar Tage. Stellen Supermärkte überraschend mehrere Dutzend Leute ein, stehen sofort bis zu zehntausend Frauen und Männer Schlange. Als die U-Bahn von São Paul Stationswärter suchte, rangelten über 140000 Bewerber um gerade dreißig – mies bezahlte – Stellen.