Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 11. April 2005, Heft 8

Wozu noch WM?

von Klaus Hansen

Die Auslosung der Eintrittskarten für die Fußballweltmeisterschaft 2006 steht bevor. Dem freiverkäuflichen Kontingent von einigen Hunderttausend steht eine Nachfrage von zehn Millionen gegenüber.
Kehren die Spieler heim zu ihrer Nationalmannschaft, so heißt das für die meisten der teilnehmenden WM-Länder, auch für die Großen, Brasilien zum Beispiel: Elf millionenschwere Kosmopoliten reisen von ihren Arbeitsplätzen zwischen Rom und Tokio zurück zu ihren Wurzeln, um auf der Basis des Abstammungs- oder Territorialprinzips eine Fußballmannschaft zu bilden. Sind Blutrecht und Bodenrecht gute Auswahlkriterien für guten Fußball? Damit die Zweifler nicht zu lautstarken Kritikern werden, rückt das präventive Einsatzkommando der Geschwister Stolz & Ehre aus der Mythen-Deckung. Es sei eine Frage der Ehre, die Farben seines Landes vor aller Welt zu vertreten. Jeden Jungen mache es stolz, das Nationaltrikot überzustreifen zu dürfen. Wie ehrenhaft ist es, den braunen Davids und den schwarzen Seedorf unter holländischer Flagge zaubern zu lassen? Ist das nicht ein schamloses Prahlen mit kolonialer Beutekunst? Wie stolz macht es einen Schwarzen, wenn er einen Käskopp spielen darf? Wie stolz macht es Gerald Asamoah, den man eingedeutscht hat, um ihn ins Nationaltrikot zu stecken und dann Blondie zu rufen, also mit dem Kosenamen von Adolf Hitlers Schäferhund?
Holland hatte bei den letzten Weltturnieren immer eine gute Mannschaft beisammen, sogar eine der besten. Klar war aber auch: Jedes Mitglied der holländischen Equipe spielte in einem Verein, der besser spielte als die holländische Nationalmannschaft. Juve und Real, Arsenal und Milan, Barcelona und Manchester. Nationalmannschaften sind naturgemäß keine gut eingespielten Mannschaften, dazu trifft man zu selten zusammen. Immer wieder stellt sich heraus, daß zu den elf Besten auch Spieler gehören, die bei ihrem Brötchengeber auf der Reservebank schmoren. Bei der Weltmeisterschaft 1998 hat es sogar ein Bankdrücker geschafft, Torschützenkönig des Turniers zu werden. Eine ganze Saison lang gehörte der Spieler Davor Suker zu Hause bei Real Madrid nicht zur Stammformation. Er durfte sich warmhalten; mitspielen durfte er nicht. In Frankreich jedoch trumpfte er als Star und Goalgetter der kroatischen Nationalelf groß auf. Eine Weltmeisterschaft der Nationalmannschaften ist in unserer Zeit keineswegs mehr eine Leistungsschau des Spitzenfußballs. Sie ist auch keine »Weltmesse spielerischer und taktischer Neuheiten« mehr, wie es der Weltfußballverband gerne sehen möchte. Viele Spiele der letzten WM 2002 hatten, gemessen am deutschen Ligasystem, Regionalligaformat. Allerdings bei zehnfach höheren Eintrittspreisen. Warum dann überhaupt noch Weltmeisterschaften?
Für junge Staaten, Kroatien zum Beispiel, dienen sie der Stabilisierung nach innen und der Anerkennung von außen. Immerhin war man in Frankreich bis ins Halbfinale vorgedrungen, wenige Jahre nach der staatlichen Souveränität. Für Nationen in trans- und supranationaler Auflösung, Euro-Staaten zum Beispiel, befriedigen sie eine rückwärtsgewandte Melancholie, die unter allen Übergangsgefühlen eines der friedlichsten ist. Hat der deutsche WM-Titel von 1954 je größere Popularität erlebt als 2004? Daß Zwergenstaaten gegen Weltmächte gewinnen und die USA fußballerisch hinter Dänemark rangieren, schürt das Gefühl der ausgleichenden Gerechtigkeit. In armen Ländern, Brasilien zum Beispiel, machen Weltmeisterschaften im Augenblick des Erfolges das Elend vergessen.
Wäre es nicht besser, Fußballweltmeisterschaften in Zukunft unter die Schirmherrschaft der Vereinten Nationen zu stellen, um von vornherein klarzumachen, daß es sich um globale Befriedungs- und Pazifizierungsaktionen handelt, Blauhelmeinsätzen vergleichbar? Für die Zeit eines Weltmeisterschaftsturniers könnte eine weltweite Waffenruhe ausgerufen werden. Die Chance wäre groß, viel größer als anläßlich Olympischer Spiele, daß sie auch tatsächlich eintritt und eingehalten wird. Denn alle wollen doch dabei sein! Die erfaßten Fernsehzuschauerzahlen für die Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea beliefen sich auf cirka vierzig Milliarden. Statistisch gesehen hat sich damit jeder der sechs Milliarden Erdenbewohner sechs- bis siebenmal in die Turnierberichterstattung eingeschaltet. Da bleibt für kriegerisches Gemetzel gar keine Zeit mehr!