Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 11. April 2005, Heft 8

Politik für alle?

von Helge Meves

Der Mensch muß aus der Sprache verschwinden, um die Ungeheuerlichkeit des Tuns zu verschleiern«, konstatiert Oskar Lafontaine in seinem dritten Buch nach dem Mobbing durch den 98er Wahlsieger. Und er analysiert die Begriffskonstruktionen der neoliberalen Revolution, die rot-grüne Regierungspolitik, eigene Fehler und Irrtümer, um dann im letzten Teil schließlich ein – weitgehend die politischen Positionen der linken Kritiker und Gegner des Neoliberalismus zusammenfassendes – Alternativprogramm zu präsentieren. Das ist allerhand, und um es vorweg festzuhalten: Das ist gelungen und unterstützt in der Tat eine geistige Neuorientierung in der Gesellschaft.
Mit seiner Sprachkritik legt er im Anschluß an George Orwells Kleine Grammatik und Ivan Nagels Falschwörterbuch einen Grund für den Erfolg der neoliberalen Revolution – wie auch eine Aufgabe der Gegenbewegungen – frei. Ein Beispiel: Immer selbstverständlicher wird in der Politik von Eigenverantwortung gesprochen. Was sollte daran auch falsch sein können, daß man zuerst einmal für sich selbst verantwortlich ist? Mitgefühl, Sympathie, Respekt sowie Vertrauen und Verpflichtung, Nächstenliebe und Solidarität denkt man bei dem Wort Verantwortung mit: Verantwortung ist ja Verantwortung von Menschen für Menschen.
Im totalen Anspruch des neoliberalen Neusprech allerdings meint das Wort etwas anderes. Eigenverantwortung ist nur noch die Verantwortung des Menschen für sich selbst. Der Mensch in seiner Mitmenschlichkeit wird aus den sozialen Beziehungen getilgt. Was bleibt, ist eine Welt, in der der Mensch des Menschen Wolf ist; einzig darauf bedacht, im aufgeheizten Verteilungskampf seine Zähne zu schärfen und die eigenen Vorratslager zu füllen.
Dennoch sind die Sprach- und Gedankenkonstrukte der Neoliberalen nicht ohne Wirkung. Lafontaine verweist auf Umfragen, nach denen zwei Drittel der Bevölkerung der Meinung sind, daß die Mehrheit der Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe beziehenden Menschen arbeiten könne, aber nicht wolle, und sieht darin einen »Erfolg der neoliberalen ›Aufklärung‹«.
Die Fokussierung des Buches auf sein programmatisches Manifest ist seine Stärke. Die Frage danach, wie es zu dieser neoliberalen Hegemonie in Sprache und Denken kommen konnte, stellt sich danach nicht. In Folge dieser Beschränkung breitet sich – bei Beschreibung der »alltäglichen Katastrophe« – eine leichte Resignation aus. Weiter bleibt eine von Joachim Bischoff und Björn Radke bereits angemerkte Leerstelle: Wie konnte die Sozialdemokratie zum Antreiber dieser Entwicklung werden? Sind die Sozialdemokratien schleichend neoliberalisiert worden, oder hat sie sich zu einer Marktsozialdemokratie entwickelt, die durch ihre Neuausrichtung auf die Mitte der Gesellschaft eine neuverstandene soziale Gerechtigkeit auf neuer sozialer Basis zu etablieren sucht und damit dem klassisch neoliberalen Angriff die Spitze nimmt?
Diese Frage wird bei einer Partei durch die Mitglieder und Wähler entschieden. Kann sich die Sozialdemokratie nicht mehr als das parlamentarisch alternativlose kleinere Übel darstellen, »werden sich Sozialdemokraten und Gewerkschaftsmitglieder entscheiden müssen, ob sie ihrer Organisation oder ihrer Überzeugung treu bleiben«. Voraussetzung dafür sei, daß es überhaupt eine Wahl gibt. Die PDS kommt für Lafontaine als Alternative nicht in Frage, weil sie »in Westdeutschland ein Glaubwürdigkeitsproblem« habe; zudem »gerät sie in Schwierigkeiten, weil sie in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin an Landesregierungen beteiligt ist, die die sozialen Abbaugesetze umsetzen müssen«.
Darum sei eine neue Partei nötig; der entstehenden Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit traut es Lafontaine zu, »ein Gegengewicht im deutschen Parlament zu sein«, da sie sich programmatisch »nicht nur mit der langjährigen SPD-Programmatik, sondern auch über weite Strecken wörtlich mit den Vorschlägen der deutschen Gewerkschaften deckt«; zur Bundestagswahl sollte diese Partei antreten. Nachzutragen wäre hier, daß soviel Geduld überall nicht nötig ist: Die WASG tritt erstmals zur Landtagswahl im Mai in Nordrhein-Westfalen an.
Lafontaines Buch hat die parlamentarische Entscheidungsebene im Blick. Nichtparlamentarische Bewegungen, seien es soziale, globalisierungskritische, ökologische, kulturelle und Religionsgemeinschaften, bleiben Anreger oder Gewährsleute des Alternativprogramms, sind für ihn aber nicht potentielle Bündnispartner für eine andere Politik. So dürfte die von ihm geforderte »geistige Neuorientierung« kaum erreichbar sein. Außerdem versperrt sich Lafontaine damit den Zugang zu den Haarrissen in der neoliberalen Hegemonie.
Die Propaganda des Irak-Krieges verwendete ebenso Neusprech. Aber sie überzeugte trotzdem nicht. Kurz vor Beginn des Angriffskrieges waren 76 Prozent der Bundesbürger der Meinung, daß sich Deutschland nicht an diesem völkerrechtswidrigen Krieg beteiligen solle, und immerhin 47,5 Prozent sahen in der sogenannten indirekten Unterstützung der Invasoren einen Wortbruch der Bundesregierung. Hingewiesen sei auf den Neusprech herumdrehenden und auch dadurch erfolgreichen Film Die fetten Jahre sind vorbei oder solche Kampagnen wie die von Attac, die aus Vodaphone Vodaklau machte. Aus dem Blick geraten auch die Debatten und Gespräche, die Bildungsarbeit und die Sozialforen der Bewegungen und Gewerkschaften.
Die in diesem Buch nicht geklärten Fragen machen Lafontaines Kritik und Alternativprogramm allerdings nicht schwächer. Die Vorstellung von einem radikalen Kurswechsel nimmt weiter Gestalt an und öffnet Wege, daß »die Karten in der Republik in der Tat neu gemischt« werden, wie es der Parteienforscher Franz Walter kürzlich auf den Punkt brachte.

Oskar Lafontaine: Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft, Econ-Verlag Berlin 2005, 304 Seiten, 19,90 Euro