Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 11. April 2005, Heft 8

Beton über Heimat

von Martin Nicklaus

Hort meiner Jugendjahre war ein großzügiger, von Bruno Taut geplanter Wohnkomplex. Von hier aus starteten erste Ausflüge in die Umgebung. Heute würden die Entdeckungstouren bereits an einer modernen Zaunanlage enden, die Tauts Idee von Weite und Offenheit völlig neu interpretiert. Nur an guten Tagen steht die Tür offen. Zu DDR-Zeiten wurde bereits die Aufstellung eines Schildes »Einfahrt verboten« als eklatanter Eingriff in Bürgerrechte und Freizügigkeit empfunden.
Gleich um die Ecke lag ein Minipark, dessen üppiges Buschwerk zusehends unbeherrschbarer wurde. Zwei Bänke dienten uns lange Zeit als Treffpunkt. Der reisetaschengroße Rekorder aus dem Westen verbreitete Lebenseinstellung: »Breaking the law« von Judas Priest. Ein Bandname, der sich gut ins Ambiente fügte, das aus den Räumen der Zachäusgemeinde bestand, wo ich meine »göttliche Ausbildung« erhielt. Der Besuch der Christenlehre war Ausgleich für den bewußtseinsverengenden Staatsbürgerkundeunterricht, eine Art stiller Widerstand gegen den SED-Staat.
Heute sind Park und Kirchenräume abgerissen, mußten einem Wohngebirge weichen. Auf dem Hof hinter der Gemeinde spielten wir an versteinerten Platten Tischtennis und im Gatter Fußball. Einmal kamen aus der nahegelegenen Ballettschule ein paar Typen rüber und forderten zum Duell. Uns war das beinahe ein wenig peinlich gegen die »schwulen Schönlinge« ernsthaft ein Match auszuspielen. Schwul stand in diesem Fall für verweichlicht, lasch, mädchenhaft. Die durchtrainierten Tänzer aber waren konditionell weit überlegen und fühlten sich mit ihren Eisenkörpern im Reich des Schmerzes gradewegs zu Hause. Zwei Aspekte, die im Straßenfußball weit mehr zählen, als die Fähigkeit, einen Ball anzunehmen. Die umstehenden Damen vergaßen nicht, uns im Laufe des Spiels an unsere Sprüche von davor zu erinnern. Nach dem Duell kam der größte Hammer: als die »Schwulen« anfingen, mit »unseren« Mädels zu flirten.
Inzwischen sind die Spielgelegenheiten abgeräumt. Spielplätze werden generell nur noch als Orte mit erheblicher Lärmemission wahrgenommen und stören infolgedessen. Für Publikum ist der Hof unzugänglich. Seine Zufahrten riegeln Zäune mit Überkletterschutz ab.
Schulübergreifende Fußballspiele fanden auf dem Sportplatz der 11. POS statt. Einmal mußten wir D. ersetzen. Schon etwas verspätet kam er angerannt und übersah, daß, obwohl der Zaun um den Platz fehlte, der obere Spanndraht noch hing. Man, hat der einen Looping gedreht und geblutet aus beiden Mundwinkeln, in die sich der Draht eingegraben hatte. Was einstmals offenes Gelände war, bedeckt heute eine für die Allgemeinheit verschlossene Halle und eine abgeriegelte Sportanlage.
Einen weiteren Bolzplatz hatten wir in den Grünanlagen hinter Goldpunkt in der Erich-Weinert-Straße. Besondere Attraktion dort, ein Hügel im Feld, der um- oder überspielt werden mußte. Jetzt haben sie an dieser Stelle eine aus spieltechnischer Sicht und auch sonst cleane Wohnanlage hingeklotzt, die ihren kleinen Beitrag zu den hunderttausend in Berlin leerstehenden Wohnungen leistet und durch dessen sterile Höfe ein Hausmeister patrouilliert.
Bliebe noch die Wiese Ostsee-/Ecke Mandelstraße. Hier wurde die Parallelklasse 23:0 abgefertigt. Da war uns eine Woche lang die Aufmerksamkeit der ganzen Schule (will sagen, der schönsten Mädchen) sicher. Wir spielten damals nach dem inzwischen kaum noch in Anwendung gebrachten System, wonach dort, wo der Ball rollt, sich fünf oder sechs Spieler balgen (daher der Begriff!?). Mannschaftszugehörigkeit war dabei erst in zweiter Linie wichtig. Es bedarf keiner weiteren Erwähnung, seit einigen Jahren ist dieses Feld ebenfalls unbespielbar, überzogen von einem Baumarkt, einer Kaufhalle und, sehr wichtig, Büros. Die Fläche der leerstehenden Büroräume in Berlin erreicht mit derzeit rund 1,8 Quadratkilometern etwa die Ausmaße von Monaco. An leeren Verkaufsflächen gammeln 500000 Quadratmeter vor sich hin.
Ein andersgearteter Treffpunkt war die Neubaugaststätte Mühle in der Greifswalder Straße sowie der Platz davor. Hier begegnete mir I. Nach einem schüchternen Neujahrskuß fragte die Süße ganz provokant, ob das schon alles war. Da blieben nur zwei Möglichkeiten, wegrennen und für die nächsten paar Jahre eingraben, oder in den »sauren Apfel« beißen. Daraus wurde mein alle Mysterien durchbrechender erster großer Kuß.
Eine Attraktion war der gut bekletterbare Brunnen, besonders wenn B. zur allgemeinen Belustigung und um sich vor den Mädels dicke zu tun, ohne sie gleich küssen zu müssen, wieder Fit hinein gekippt hatte, was einen erheblichen Schaum erzeugte.
Natürlich war die Mühle selbst Anlaufpunkt: Essen-Rumhängen-Saufen, Sonntags zur Nachmittagsdisko. Den Schnaps schmuggelte P. mit ein. Einmal war ich blöd genug, mir den Braunen (Vierzehnfuffzich) mit Brause anstatt mit Cola zu mischen. Dadurch entstand eine Getränkefarbe, die bei der Kellnerin eine gewisse Unruhe und den Verdacht erregte, wir würden Schnaps einschmuggeln. Anschließend, gut in Fahrt, ging es rüber in den Jugendklub, ebenfalls zum Tanz, der bei uns fast ausschließlich aus hochwertvoller Konversation und der Konsumierung sonderbarster Cocktails bestand. Erst wenn Trunk das Tanzbein gelockert hatte, fand man uns auf dem Parkett. Meist in der langsamen Runde, bei der sich jeder verliebt angeschmiegt mit seiner Auserwählten dahindrehte und gar kein Ende finden wollte, aber mußte, damit die Kumpels einen nicht zum verzärtelten Weichei erklärten. Manchmal übertrug ein Fernseher in exponierter Position Sportereignisse. In Erinnerung blieb das Spiel vom BFC gegen Nottingham Forest. Wie wunderbar, Mielkes Truppe aus dem Europapokal rausfliegen zu sehen. Ein wirklicher Berliner war nun mal Union-Fan.
Heute steht der »Jugendklu …« leer, ist nur noch eine Fischgestank verbreitende Ruine, Denkmal sozialer Verwahrlosung. Neben dem »B« im Schriftzug fehlt ein Betreiber, die Inneneinrichtung und einigen Fenstern das Glas. Wo einst die Mühle stand und über der Stelle meiner ersten Romanze thront inzwischen das klobige Mühlencenter, einer dieser lieblosen Einkaufskomplexe. Alles folgt dem Prinzip, nachdem öffentlicher Raum privatisiert und einer allgemeinen Nutzung entzogen wird. Während Politiker und andere Sonntagsredner noch von Freiheit demagogieren, wird Bewegungsraum eingeschränkt, verschwindet Heimat unter Beton und hinter Zäunen. Wie gut, daß junge Generationen sich heute vor dem Computer asozialisieren. Nur, weder D. noch I. oder B. oder P. noch all die anderen, die nötig waren, um große Schlachten, kleine Abenteuer zu erleben, werden sie kennenlernen. Mir scheint das eine gute Voraussetzung, Zombie zu werden. Aber wo sollen sie auch hin, in einer Gesellschaft, die das Zubauen und Einzäunen von Freiflächen als Fortschritt begreift und dem Kult des Privaten huldigt, ohne zu bemerken, wie sie sich damit selbst zerstört?