Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. März 2005, Heft 6

Verwandtschaft ohne Wahl

von Mirko Schwanitz

Acht Jahre lang bin ich jeden Tag nach Berlin gefahren. Im Regionalexpreß der Linie Eins, der zwischen Frankfurt/Oder und Magdeburg pendelt. Jeden Montagmorgen und jeden Freitagabend wurde der Zug für exakt 72 Minuten zu einem besonderen Ort der Inspiration. Oder sollte ich besser sagen: Imagination? In diesen 72 Minuten konnte ich ein Abteil betreten, mich in einen der wenigen freien Sitze sinken lassen, die Augen schließen und mir vorstellen, ich befände mich nicht zwischen den Stationen Fürstenwalde/Spree und Berlin-Friedrichstraße, sondern zwischen Gorlice und Nowy Targ oder, wem das mehr sagt, zwischen Gorzów und Wroclaw.
Das fiel mir leicht, denn in diesen Minuten des Montagmorgens und Freitagabends, und nur in diesen, wurde der Zug zu einer Art exterritorialem Gebiet, zu einem Stück fahrenden Polen, voll mit unablässig redenden Malgorzatas, Zytas und Ilonkas. Wie ein Schwarm Bienen umschwirrten mich die wundersamen Zischlaute der polnischen Sprache, von denen ich auf einem Intensivkurs gelernt hatte, daß wir Deutsche sie tatsächlich ohne Probleme aussprechen können. Besonders schön klangen sie am Freitagabend, wenn der Zug in die umgekehrte Richtung fuhr. Da wurde sozusagen aus vollem Munde gesprochen. Ein Salamibrot zwischen den Zähnen oder ein Apfelstück auf der Zunge sind schließlich kein Grund, mit dem Erzählen innezuhalten.
Nur manchmal, wenn ein paar meiner Landsleute auf der Suche nach deutschem Hoheitsgebiet diesen polnischen Sprachraum durchquerten und ein paar Worte zurückließen, verstummen alle schlagartig, so daß ich aus meinen Gedanken aufschreckte. »Was heißt das?«, fragte einmal eine Elzbieta zu meiner Linken ihre Gegenüber: »Was heißt ›Putzfrauenexpreß‹?«
Irgendwann begann ich, auf diese Reisenden zu warten, denn ich stellte fest, daß sich nach solchen Bemerkungen ein merkwürdiges Ritual wiederholte. Nach jenem kurzen Moment der Stille, in dem nichts weiter wahrzunehmen war als das Nachfedern der Abteiltür, redet zunächst alles durcheinander. Ganz so, als sollte die eigene Sprache einen Fremdkörper einfangen, umhüllen, unschädlich machen, sich sozusagen verhalten wie weiße Blutkörperchen. Dann wird es stiller. Und die Geschichten im Abteil ändern sich.
Sie ähneln dann jenen Erzählungen, wie sie vor einiger Zeit in dem Band Powinowactwo bez wyboru erschienen sind – Verwandtschaft ohne Wahl. Darin schreibt der 1966 in Kattowice geborene Michal Szalonek über die Identitätskrisen der Generation seiner Eltern und läßt die Handlung teilweise zur bitteren Groteske gerinnen: In Berlin treffen Michal und Max Jagla aufeinander. Beider Eltern stammen aus Schlesien. Beider Eltern wollen die polnische Vergangenheit loswerden. Der Vater fordert Michal auf, alle Beleidigungen zu ertragen, aber zuzuschlagen, wenn ein Deutscher ihn Polacke schimpft. Max’ Vater ist auf andere Weise radikal. Er stiftete seinem Sohn die deutsche Identität mittels »amtlichem Ariernachweis«. Doch gibt es in der Villa der Jaglas ein Zimmer, das, gesichert wie Fort Knox, zu betreten Max verboten ist. Die Freunde spekulieren nun, ob sich dahinter nicht ein sehr persönliches Hitler-Gedenkkabinett befinde. Am Ende brechen die Jungen ein und stehen in einem Devotionalien-Kabinett ganz anderer Art – einer originalgetreuen schlesischen Küche, mit eisernem Bettgestell, Dielen, die noch »rot gestrichen sind wie bei Großtante Erna in Welnowiec«, Bunzlauer Keramik und Weckgläsern mit saurer Mehlsuppe auf dem Herd.
Ein anderer Autor, Filip Onichimovsky, erzählt davon, wie sich in einem Dorf in der polnischen Provinz dumpfer unterschwelliger Deutschenhaß plötzlich in Gewalt gegen deutsche Urlauber entlädt. Bei aller Unterschiedlichkeit der Themen haben die fünf Erzählungen eines gemeinsam. Sie bringen dem Leser nahe, was sich hinter den Stirnen der uns so nahen fremden Nachbarn abspielt, und legen nach der Lektüre den Schluß nahe, daß es so etwas wie eine deutsch-polnische »Verwandtschaft ohne Wahl« tatsächlich gibt.
Es sind Geschichten, wie sie die polnischen Frauen in den Zugabteilen auch erzählen. Jene Frauen, die zwischen Berlin-Ostbahnhof und Friedrichstraße unsichtbar werden, zu Heinzelfrauen einer Gesellschaft, die sich von ihnen die Wohnungen putzen läßt und erstaunt zur Kenntnis nimmt, daß danach immer noch alles an seinem Platz ist. So fallen Klischees. Schon aus diesem Grund, sagte mir einmal der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, gebühre ihnen der Karls-Preis. Sie würden mehr für Europa tun als manch nadelgestreifte Herrschaft, die zwischen Europas Metropolen und Brüssel pendelt.
Wie auch immer, beim Lesen des kleinen zweisprachigen Erzählbandes glaubte ich, Dinge wiederzuerkennen, die mir vertraut waren aus jenen polnischen Enklaven in den Zügen meiner Pendlerjahre. Ich weiß nicht, ob die Autoren jemals mit dem Regionalexpreß unterwegs waren. Vielleicht haben sie ja neben mir gesessen und sich Notizen gemacht. Nicht ahnend, daß sie für die Geschichten, die sie daraus machen sollten, einmal den Literaturpreis der Deutschen Welle erhalten würden.

Verwandschaft ohne Wahl. Deutsche Welle-Literaturpreis Polen 2003, fibre- Verlag Osnabrück, 183 Seiten, 14,80 Euro