Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 28. März 2005, Heft 7

Nächste Kreuzzüge

von Uri Avnery, Tel Aviv

Vor vielen Jahren las ich das Buch Der stille Amerikaner von Graham Green. Seine Hauptfigur ist ein hochgesinnter, naiver, junger amerikanischer Geheimdienstler in Vietnam. Er hat von der Komplexität dieses Landes keine Ahnung, will aber seine Mißstände beseitigen und Ordnung schaffen. Die Folgen sind verheerend.
Ich habe das Gefühl, daß genau dies jetzt im Libanon geschieht. Die Amerikaner sind nicht so hochgesinnt und nicht so naiv. Weit davon entfernt. Aber sie sind sehr bereit, in ein fremdes Land einzudringen, ohne seine Komplexität zu berücksichtigen, und in ihm mit Gewalt Ordnung, Demokratie und Freiheit herzustellen.
Bürgerkrieg: Libanon. Der Libanon ist ein Land mit einer besonderen Topographie. Es ist ein kleines Land mit hohen Bergketten und isolierten Tälern. Deshalb zog es Jahrhunderte lang Gemeinschaften verfolgter Minderheiten an, die hier ein Refugium fanden. Heute leben dort neben- und gegeneinander vier ethno-religiöse Gemeinschaften: Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen. Innerhalb der christlichen Gemeinschaft gibt es noch verschiedene Denominationen wie die Maroniten, Griechisch-Orthodoxen und weitere, die einander oft feindlich gesinnt sind. Die Geschichte des Libanon ist voll von gegenseitigen Massakern. Solch eine Situation lädt Nachbarn und ausländische Mächte geradezu ein, sich einzumischen.
Genau vor fünfzig Jahren gab es zwischen den Führern Israels eine geheime, hitzige Debatte. David Ben Gurion (damals Verteidigungsminister) und Moshe Dayan (Generalstabschef) hatten eine brillante Idee: den Libanon zu überfallen, einen »christlichen Major« als Diktator einzusetzen und den Libanon in ein israelisches Protektorat zu verwandeln. Moshe Sharett, der damalige Ministerpräsident, lehnte diese Idee leidenschaftlich ab. In einem langen, scharf argumentierenden Brief, der für die Geschichte bewahrt wurde, zieht er angesichts der unglaublich zerbrechlichen Komplexität der sozialen Struktur des Libanons die totale Unkenntnis der Befürworter dieser Idee ins Lächerliche. Jedes Abenteuer würde in einer Katastrophe enden, warnte er. Damals siegte Sharett. Aber 27 Jahre später taten Menachim Begin und Ariel Sharon genau das, was Ben Gurion und Dayan vorgeschlagen hatten. Das Ergebnis war genau so, wie Sharett es vorausgesehen hatte.
Jeder, der jetzt den amerikanischen und israelischen Medien folgt – es gibt keinen Unterschied –, gewinnt den Eindruck, daß die gegenwärtige Situation im Libanon einfach sei: Es gibt zwei Lager, »die Unterstützer Syriens« auf der einen Seite und die »Opposition« auf der anderen. Da gibt es einen »Beiruter Frühling«. Die Opposition möchte eine Zwillingsschwester der ukrainischen Opposition sein und imitiert deren Methoden. Aber zwischen der Ukraine und dem Libanon gibt es nicht die geringste Ähnlichkeit. Die Ukraine ist ein »einfach« strukturiertes Land: Der Osten tendiert zu Rußland, der Westen zu Europa. Mit amerikanischer Hilfe gewann der Westen. Im Libanon hingegen sind verschiedenste Gemeinschaften in Aktion. Jede für ihre eigenen Interessen, jede verschwört sich gegen die andere, trickst sie aus oder greift sie bei einer günstigen Gelegenheit an. Einige der Führer sind mit den Syrern verbunden, einige mit Israel, alle versuchen, die Amerikaner für ihre Zwecke auszunützen.
Es ist erst dreißig Jahre her, daß all diese Gruppierungen einen schrecklichen Bürgerkrieg begonnen hatten und sie sich gegenseitig umbrachten. Die christlichen Maroniten wollten das Land mit Hilfe Israels übernehmen, wurden aber von einer Koalition der Sunniten und Drusen besiegt. (Die Schiiten spielten damals keine Rolle.) Die von der PLO geführten palästinensischen Flüchtlinge, die eine fünfte Gemeinschaft bildeten, schlossen sich dem Kampf an. Als die Christen in Gefahr waren, überrannt zu werden, riefen sie die Syrer zu Hilfe. Sechs Jahre später fielen die Israelis mit dem Ziel ein, die Syrer und die Palästinenser gemeinsam zu vertreiben und einen starken christlichen Mann (Basheer Jumal) einzusetzen.
Wir brauchten achtzehn Jahre, um aus dem Morast wieder herauszukommen. Unsere einzige Errungenschaft war, die Schiiten in eine dominante Macht zu verwandeln. Als wir in den Libanon einmarschierten, empfingen uns die Schiiten mit Reis und Süßigkeiten, da sie hofften, wir würden die sie beherrschenden Palästinenser hinaustreiben. Ein paar Monate später, als ihnen klar wurde, daß wir nicht die Absicht hatten, sie zu verlassen, begannen sie, auf uns zu schießen. Sharon ist der Geburtshelfer der schiitischen Hisbollah.
Es ist schwer vorauszusehen, was geschehen wird, wenn die Syrer den Libanon verlassen. Es gibt keine Anzeichen, daß sich die Amerikaner mit der Schaffung neuer Lebensstrukturen für die libanesischen Gemeinschaften befassen werden. Sie geben sich damit zufrieden, über »Freiheit« und »Demokratie« zu faseln, als ob ein Mehrheitsvotum ein für alle akzeptables Regime schaffen könnte. Sie verstehen nicht, daß der »Libanon« ein abstrakter Begriff ist, da für die meisten Libanesen die Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinschaft bei weitem wichtiger ist als Loyalität zum Staat.
Wenn es den Amerikanern (mit unserer diskreten Hilfe) gelingen sollte, die regierende syrische Diktatur zu stürzen, gibt es überhaupt keine Sicherheit, daß sie durch »Freiheit« und »Demokratie« ersetzt wird. Denn Syrien ist fast so zersplittert wie der Libanon. Es gibt eine starke drusische Gemeinschaft im Süden, eine rebellische kurdische Gemeinschaft im Norden, eine alawitische (zu der die Assadfamilie gehört) im Westen. Die sunnitische Mehrheit ist traditionell zwischen Damaskus im Süden und Aleppo im Norden geteilt.
Das Volk hat sich aus Furcht vor dem, was nach einem Regimekollaps geschehen könnte, mit der Assad-Diktatur abgefunden. Es ist unwahrscheinlich, daß ein wirklicher Bürgerkrieg hier ausbrechen wird. Aber eine längere Phase von totalem Chaos ist ziemlich wahrscheinlich. Sharon würde darüber glücklich sein, obgleich ich mir nicht sicher bin, ob dies für Israel gut sein wird.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, gekürzt