Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. Februar 2005, Heft 4

Parlamentarier in die Produktion

von Ove Lieh

Zuerst gehörte ich auch zu jenen, die forderten, Abgeordnete sollten keine Nebenjobs haben. Aber nach einigem Nachdenken kam ich zu der Überlegung, daß es doch ganz nützlich sein könnte, wenn Abgeordnete neben der Wahrnehmung ihres Mandats ein wenig arbeiteten. Nun allerdings nicht, wie es die bisherige Praxis offensichtlich war, daß sie ohne jede Arbeitsleistung Geld erhielten, sondern sie sollten in einem ganz »normalen« Arbeitsverhältnis für ganz durchschnittliche Einkommen arbeiten. Und das möglichst in den Bereichen, die von den Folgen der Parlamentsbeschlüsse akut betroffen sind.
Sie sollen in der Arbeitsagentur in der Schlange stehen und hinter dem Schalter sitzen, Schüler sein und auch Lehrer. Mit dem LKW sollen sie über die Straßen rollen und als Kurierfahrer dem Lieferwahnsinn ausgeliefert sein. An der Kasse sitzen im Supermarkt und in der Schlange stehen, beides mit knappem Geld, versteht sich. Praxisgebühr kassieren und bezahlen, Kassenpatient und -arzt sein. Als Bauarbeiter, als Arbeiter am Band oder Handwerksgeselle im kleinen Betrieb sich antreiben lassen. Und ganz besonders sollten sie in der Alten- und Krankenpflege im und vor dem Bett ihre Erfahrungen machen, und dann mit den wundgelegenen Stellen wieder auf den Abgeordnetensessel zurückkehren. Vorher aber als Soldat in aller Welt das alles verteidigen.
Bei alldem sollten sie solange mittun, bis sie einen tiefen Eindruck davon erhalten, wie es sich in der jeweiligen Position lebt. Das könnte ihre Sicht auf sich, ihre Arbeit und deren Folgen vielleicht verändern!