Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. Februar 2005, Heft 4

Banditen

von Klaus Hart, Rio de Janeiro

Wenn die Massen aus den Hügelslums eines Tages zuhauf in unsere besseren Viertel hinabsteigen, um sich zu nehmen, was ihnen am nötigsten fehlt, sind wir geliefert«, lautet eine Standardreflexion von Mittel-und Oberschichtlern der Zehn-Millionen-Stadt am Zuckerhut. Und auch mancher ausländischer Tourist, der sich an den Stränden der schicken Viertel Ipanema und Leblon tummelt, in feinen Hotels wohnt, nimmt extreme Sozialkontraste wahr, beobachtet vom Zimmerbalkon aus, daß die Verelendeten da oben in ihren Steilhang-Katen dichtgedrängt wie die Ameisen hausen. Und fragt sich, wieso die nicht rebellieren und nur einige hundert Meter weiter unten, vor Shoppings, Boutiquen und Restaurants keine Randale machen.
Die Passivität der Slumbewohner erscheint um so unverständlicher, als die Landlosenbewegung MST, auch von deutschen Kirchen und regierungsunabhängigen Organisationen stark unterstützt, der Regierung von Staatschef Lula regelmäßig Ärger macht. Beinahe täglich berichten Medien über Protestdemos, Landbesetzungen, Straßenblockaden – doch in den Städten, wo die große Masse der verelendeten Brasilianer in Slums haust, bleibt alles ruhig.
Befreiungstheologisch orientierte Kardinäle, Bischöfe und Padres der katholischen Kirche begründen dies seit Jahren mit der Diktatur des organisierten Verbrechens über die Slums: Der absichtlich zugelassene Banditenterror verhindere perfiderweise politische Aktivitäten, er mache apathisch. Jetzt hat erstmals ein renommierter Historiker diese These aufgenommen. Der 65jährige Josè Murilo de Carvalho zählt zu den Koryphäen des brasilianischen Geisteslebens, er ist Lehrstuhlinhaber an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (Kollege von Anita Prestes, der Tochter von Olga Benario) und zudem Mitglied der ehrwürdigen Dichterakademie des Tropenlandes. »Die Landlosenbewegung«, so Carvalho, »ist gut organisiert, sehr effizient und hat enormen Erfolg, da sie die Regierung zwingt, endlich die Agrarfrage zu lösen. Doch unsere Landbevölkerung wird immer kleiner, sie ist nur eine Minderheit. Die Masse der sozial Ausgeschlossenen konzentriert sich in den großen Städten – alleine Rio de Janeiro hat über sechshundert Slums mit anderthalb Millionen Bewohnern – dort steckt schon von der Zahl her ein explosives Potential, anders als in den Agrarregionen.
»A noite do poder paralelo«, die Nacht der Parallelmacht, titelte 2004 Rios größte Zeitung O Globo und zeigte das hellerleuchtete Sheraton-Hotel Rios und als Kontrast den angrenzenden Hang mit dem Slum Vidigal, der wegen der Gefahr von Banditengefechten in völlige Dunkelheit gehüllt ist. Und das Fernsehen zeigt mit MPs feuernde Vidigal-Gangster – Bilder wie aus dem Irak, aus Afghanistan oder aus Palästina.
Die Banditenkommandos verhängen nicht nur in Rio, sondern auch in São Paulo, drittgrößte Stadt der Welt, regelmäßig Ausgangssperren, schüchtern die Slumbewohner mit drakonischen Strafen ein, darunter Foltern, Handabhacken, Köpfen, Zerstückeln, lebendig Verbrennen. Der pure, alltägliche Terror. Deshalb lautet Carvalhos Schlußfolgerung: »Die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums blockiert die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion sowie Protestaktionen jeder Art. Die Gangsterkommandos dienen damit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität im Lande – und das ist den Autoritäten sehr recht; es ist gut für sie. Natürlich würden sie das nie eingestehen. Ohne Zweifel gehört zum strategischen Kalkül auch der jetzigen Regierung, daß es wegen der so hilfreichen Gangsterkommandos keine soziale Explosion geben werde. Das ist natürlich reiner Zynismus. Wir haben so viele Gewalttote wie in Bürgerkriegen. Und die Assoziationen der Slumbewohner werden total vom organisierten Verbrechen dominiert. Das Drama der ›Slum-NGO‹ besteht darin, ohne Zustimmung der Banditenmilizen nicht agieren zu können, sie müssen mit ihnen verhandeln. Und indem man mit Gangsterkommandos verhandelt, legitimiert man sie.«
Für Verbindungen der Machteliten aus Politik und Wirtschaft mit dem organisierten Verbrechen sprechen zahlreiche Indizien. So wohnen nach Angaben der Künstlerin und Menschenrechtsaktivistin Yvonne Bezerra de Mello die Bosse der Verbrechersyndikate natürlich nicht in den Slums. »Die wohnen in den Nobelvierteln.« Bereits 1992 hatte der progressive Abgeordnete Carlos Minc konstatiert: »In Rio de Janeiro sind Straftäter und Autoritäten Komplizen – das organisierte Verbrechen, das Drogenkartell herrscht in den Favelas, pflegt enge Beziehungen zur Geschäftswelt, zur Stadtregierung, zu Polizei und Justiz, die daher Straffreiheit walten lassen, die Gesetze nicht anwenden, die Menschenrechte der Bewohner Rios mißachten.« Und die progressive brasilianische Monatszeitschrift Caros Amigos konstatiert in einer Analyse über die »Schmutzigen Hände« der Landeselite: »Das Verbrechen hat sich im Herz des Staatsapparates installiert«.
Im Dezember 2004 begaben sich Kulturminister Gilberto Gil und Arbeitsminister Ricardo Berzoini zu einer offiziellen Visite in Rios Slumregion Complexo da Marè, um Qualifikationsprogramme für Jugendliche vorzustellen. Beide hatte für die Visite die Erlaubnis der lokalen Gangsterkommandos, sie verzichteten auf jeglichen Polizeischutz und sogar auf die üblichen Bodyguards. Damit sei, wie der Soziologe Jailson Silva folgerte, erschreckenderweise vom Staat anerkannt worden, daß er die Parallelmacht darstelle und nicht etwa das organisierte Verbrechen.
Paulo Sergio Pinheiro, Experte für Gewaltfragen an der Universität von São Paulo, kam zu dem Schluß: Mit der Ministervisite sei »bestätigt – der brasilianische Staat kontrolliert große Teile seines Territoriums nicht mehr«. Tage zuvor weilte Minister Gil in der berühmten, vom Staatskonzern Petrobras gesponserten Sambaschule Mangueira, die gerade einen herben Verlust erlitten hatte: Nach den bisherigen Ermittlungen hatten Mitglieder des im Mangueira-Slum herrschenden Verbrecherkommandos den Vizepräsidenten der Sambaschule, gleichzeitig Chef der Perkussionsgruppe (Bateria), ermordet, weil nicht die von ihnen ausgewählte Tänzerin zur Königin der Bateria bestimmt worden war. Aus Angst vor Racheakten lehnten Mitglieder der Sambaschule, darunter sogar der landesweit berühmte Sänger Jamelao, jegliche Stellungnahme zu dem Fall ab. Um so mehr war erwartet worden, daß Minister Gil als Repräsentant der Regierung klar Position bezieht, den zunehmenden Druck der Banditenmilizen des organisierten Verbrechens auf die Sambaschulen scharf zurückweist. Doch Gil zog es vor, gegenüber den zahlreichen Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen dazu kein einziges Wort zu verlieren. Statt dessen: geheuchelte Fröhlichkeit, Sambagetrommel und defilierende Kinder – und ein Minister, der Optimismus und Karnevalsvorfreude ausstrahlte.