Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 31. Januar 2005, Heft 3

Was werden nur die Leute dazu sagen?

von Ove Lieh

So lautete früher (und vielleicht auch heute noch) die berühmte Frage, wenn im Familienkreis irgendein »peinliches« Ereignis eingetreten war. Der Sprößling hatte eine Prüfung oder den Nachbarsjungen verhauen, lief auffällig gekleidet, (un-)frisiert oder gepierct durch die Gegend oder hatte einen ebensolchen Partner. »Was zu Hause passiert, ist nicht so wichtig, Hauptsache in der Fremde wissen sie sich zu benehmen«, versicherten sich benachbarte Elternpaare gegenseitig. Eine unangenehme Geschichte wurde erst dann schlimm, wenn sie öffentlich wurde.
So oder so ähnlich ist das auch in der Politik. Jeder wird sich noch daran erinnern, daß den USA im Zusammenhang mit der Behandlung ihrer Gefangenen vor allem das Bekanntwerden der Foltervorwürfe zu schaffen machte. Deshalb sorgt man jetzt dafür, daß kaum noch etwas nach draußen dringt. Oder behandelt man Gefangene in Guantanamo jetzt nach den Regeln des Rechts?
Auf jeden Fall aber: alles Einzelfälle! So wie rechtsextreme Straftaten in Deutschland, Folter bei der Bundeswehr oder eben verdächtige Nebeneinnahmen von Politikern. Solange es noch einen gibt, den man nicht erwischt hat, sind es alles Einzelfälle! Alles halb so schlimm!
Thüringens Ministerpräsident Althaus fürchtete allerdings Schaden für die ganze politische Kultur, wenn sich die Diskussionen um Meyer über Monate hinzöge, was sie ja dann gottlob auch nicht tat: Der Einzelfall wurde zurückgetreten. Andere auch. Die politische Kultur wieder mal gerettet. Und Frau Leutheusser-Schnarrenberger barmte, daß besonders die Art und Weise schadet, wie Herr Meyer mit »dem Sachverhalt RWE« umgeht, indem er immer nur stückchenweise etwas mitteile. Mal langsam, gute Frau, schon die Tatsache, daß Abgeordnete, die erst jüngst wieder öffentlich jammerten, ihr Mandat fresse sie auf, und sie hätten zu wenig Zeit für ihre Lieben, noch reihenweise Nebenjobs haben, klingt »schädlich«, besonders für die politische Kultur. Tröstlich ist nur, daß man erfährt, daß sie in diesen Jobs nichts oder nur wenig tun. Also widmen sie sich doch in der Zeit, die ihnen das Volk für seine Vertretung bezahlt, dessen Angelegenheiten!? Der FDP-Fraktionschef im sächsischen Landtag jedenfalls freut sich, wenn Abgeordnete neben ihrem Mandat noch eine kleine Firma leiten oder als Angestellte irgendwo arbeiten. Die haben also doch Zeit dazu!? Das wären nämlich zwei Vollzeitjobs gleichzeitig: Abgeordneter: siehe oben, Firmenchef: Bekanntlich reibt der sich für die Firma ununterbrochen auf, von den Angestellten möchte ich im Zeitalter heraufdräuender unbezahlter Arbeitszeitverlängerungen gar nicht reden. Die armen Hunde schaffen also insgesamt 70 + 70 = 140 oder 70 + 42 = 112 Stunden die Woche, unbezahlte Überstunden nicht gerechnet! Daß man da mal den Überblick über eingehende Zahlungen auf dem Konto verliert, ist doch nur zu verständlich. Glaubwürdig ist eigentlich nur der, der als Übersetzer für VW gearbeitet hat; er hat wahrscheinlich die Interessen des Unternehmens in die Sprache der Politik übersetzt und damit beide Jobs just in time gemacht! Aber, sind sie nicht alle ein bißchen Dolmetscher, unsere Einzelfälle!?
Die Öffentlichkeit möge doch differenzieren, bittet Frau L.-S. und nicht immer von den Politikern sprechen, die sich zusätzliche Einkünfte verschaffen und sich vielleicht noch in ihrer Gewissensentscheidung dadurch beeinflussen lassen. Die Öffentlichkeit! Lustig, nicht!? Fast so lustig wie die Tatsache, daß der Meyer vor seinem Coming out noch den Arentz angemacht hatte.
Wie viele Entscheidungen aber überhaupt noch Gewissensentscheidungen sind und wie viele von Partei- oder Fraktionsdisziplin abhängen oder eben auch wie auch immer gearteten wirtschaftlichen Interessen folgen, verrät sie nicht. Immerhin müßten ja wohl Politiker, die als abhängig Beschäftigte irgendwo auf der Gehaltsliste stehen, sich wie jeder Arbeitnehmer loyal gegenüber ihrem Arbeitgeber verhalten und demzufolge gefeuert werden, wenn sie diese Bedingung nicht erfüllen, also etwa Beschlüsse mittragen, die den Interessen des Betriebes schaden. Da es sich allerdings bei den bisher bekanntgewordenen Firmen ausschließlich um Großunternehmen handelt, ist diese Gefahr angesichts der gegenwärtigen Politik wohl sehr gering. Nebenbei bemerkt, wenn man erfährt, daß RWE das Geld an Meyer »versehentlich« gezahlt habe, muß man unwillkürlich an den auf dem Beamtenschreibtisch »vergessenen« Briefumschlag denken. Zu dumm aber auch, so ein Versehen!
Worum sich Frau L.-S. und Kollegen aber vor allem Sorgen machen, ist die Wirkung solcher »Pannen« auf den Wahlkampf. »Was werden wohl die Leute dazu sagen?«, die, so Frau Sabine, solche Dinge viel besser in Erinnerung behalten als komplizierte politische Konzeptionen. Wenn es mal so wäre, daß sich die »Bürgerinnen und Bürger« – wie es immer heißt, obwohl es sich bei ihnen auch um Einzelfälle handelt, wofür sich Politik jedoch noch nie sonderlich interessiert hat – gerade »solche Dinge« besser merken würden, wenn sie sich schon mit den politischen Konzepten nicht recht abgeben wollen. Das schaffen sie nämlich oft gar nicht, wenn sie nach Feierabend geschafft nach Hause kommen.
Genug geschimpft, seien wir mal ehrlich, sie tun doch nur, was (fast, bis auf Einzelfälle) alle tun: Zusehen, wo man bleibt. Wenn sie nur nicht immer so tun würden, als seien sie etwas Besonderes.
Das ist übrigens etwas, »was die Leute dazu sagen«!