Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 17. Januar 2005, Heft 2

Materielle Unabhängigkeit

von August Bebel

Lieber Karl [Liebknecht], während der Krakeel im Reichstag mit Bülow vorbereitet wird, sitze ich hier, um an Dich zu schreiben. Ich denke, wir werden das Frühjahr, wenn Du wieder frei bist, einmal eine Stunde haben, uns auszusprechen. Das ist nötig, denn schriftlich läßt’s sich schwer verständigen.
Für mich handelt es sich darum, daß Du eine Position hast, in der Du am freiesten und unabhängigsten für die Partei wirken kannst. Wir brauchen tüchtigen Nachwuchs. Leider ist derselbe sehr rar, Du bist der einzige, auf den ich meine Hoffnung setze. Sollst Du aber einmal eine führende Stellung in der Partei bekleiden, so mußt Du vor allen Dingen finanziell von der Partei unabhängig sein. Dazu bietet Dir die Anwaltspraxis die Mittel. Nebenbei kannst Du als Anwalt in politischen Prozessen der Partei große Dienste leisten, denn wir haben sehr wenig Anwälte, die einen politischen Prozeß führen können.
Mag sein, daß man oben danach trachtet, Dir die Advokatur zu nehmen, um so mehr Grund hast Du, Dir sie nicht nehmen zu lassen. Und das kannst Du denn doch mit einiger Klugheit durchsetzen, ohne daß Du Dir dabei das geringste zu vergeben brauchst. Sieht man so klar wie in Deinem Fall, wohin der Gegner steuert, dann biete ich alles auf, um sein Spiel zunichte zu machen. Auch denke ich, daß die Erfahrung, die man jetzt in Leipzig machte, ihn zur größten Vorsicht veranlassen wird. Bis jetzt hast nur Du den Vorteil von seinen Maßnahmen.
Dein Freund Heine hat wieder seine Bierabende eingerichtet, bei welchen der ganze revisionistische Klüngel sich zusammenfindet. Mit meiner Gesundheit geht es langsam besser. Mein Schwiegersohn u. 2 andere Züricher Ärzte verlangten, daß ich die Politik an den Nagel hängen u. mich aufs Altenteil zurückziehen sollte. Dazu kann ich mich noch nicht entschließen. Ich will jetzt den Winter durch – koste es, was es wolle – Ruhe halten u. werde im Reichstag den stummen Mann spielen. Ich werde dann sehen, wie es mir im Frühjahr geht, und danach meine Maßnahmen treffen.
Nutze die 6 Monate, die Du noch zu brummen hast, aufs beste aus, es ist der einzige Vorteil, den wir von dem Sitzen haben, daß wir studieren können. Hüte aber auch Deine Gesundheit, wie mir Deine Mutter erzählte, ist Dein Quartier kein Muster für Hygiene. Da waren wir seinerzeit in Hubertusburg besser daran. Der Königstein, den ich bekanntlich als Zivilfestung einweihte, war, soweit die Räume in Frage kamen, auch viel ungemütlicher.
Komme ich mal nach Leipzig, so werde ich den alten Freytag besuchen. Er hat mich schon mal eingeladen.
Herzliche Grüße von uns beiden

Dein A. Bebel (10. November 1908)