Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 17. Januar 2005, Heft 2

Fremder Nachbar

von Achim Engelberg

Durch lange dunkle Gänge ging ich, bis ich die verstaubten Zimmer der Macht betrat; die wenigen Fenster auf dem Wege dienten der perfekten architektonischen Inszenierung, beleuchteten etwa eine wuchtige Treppe mit hohen Stufen.
In Ecken stehen Marmor-Amphoren mit antikisierendem Kitsch (eine nackte Frau mit Ähren über dem Knie, ein nackter Mann, eine Sense schleifend). Schwere Kronleuchter und symmetrisch auf Augenhöhe angebrachte fackelartige Leuchten verbreiten erhabene Stimmung; hinter großen dunklen Holztüren gähnen holzgetäfelte Zimmerschluchten mit Kaminen; mittelalterlich anmutende steinerne Bänke stehen überall herum.
Nein, es handelt sich nicht um ein Nazi-Computerspiel, sondern um die einzige noch existierende Hitlerresidenz. Sie steht unübersehbar groß, dunkel, abstoßend am Ortseingang von Poznan und wird heute von Büros und dem Theater Animacji, von Computerfirmen und Ausstellungen, einem Irish Pub und einer Ballettschule genutzt.
Wer über das ehemalige Berliner Tor ins heutige Poznan hineinfährt, hat die Langeweile der zersiedelten Vorstädte (Tankstelle, Warenlager, Baracken) hinter und eine wuchtige Trutzburg vor sich. Daß sie noch steht und nicht wie die anderen Hitlerresidenzen in Berlin, München und auf dem Obersalzberg gesprengt wurde, hatte mit der Platznot nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Unwissen zu tun. Erst vor wenigen Jahren entdeckte der Freiburger Historiker Heinrich Schwendemann, daß zwar die äußere Fassade der Burg weitgehend die des 1910 von Kaiser Wilhelm II. errichteten Schlosses ist, die inneren Räume aber als Hitlerresidenz umgestaltet worden waren. Im Herbst 1944 fertiggestellt, war sie die Quintessenz der anderen Residenzen; aber Hitler bekam sie nicht mehr zu Gesicht, denn im Januar 1945 nahm die Rote Armee Posen ein.
Der Theaterplatz gleich neben dem Schloß wurde in der Bismarckzeit nach der Reichsgründung von 1871 erbaut. Er eröffnete einen architektonischen Kampf zwischen Polen und Deutschen. So friedlich die heutigen Grünanlagen auch erscheinen – an den Denkmälern auf diesem Platz kann man erkennen, wer jeweils an der Macht war. 1903 wurde eine provokante Bismarck-Figur eingeweiht, die 1920, als Poznan eine polnische Stadt war, entfernt und 1932 durch ein Herz-Jesu-Denkmal ersetzt wurde. Heute sieht man ein 1960 errichtetes Denkmal des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz, nach dem der Platz auch heißt, und ein 1981 von Lech Walesa eingeweihtes für den Posener Aufstand von 1956. Am augenfälligsten sind aber die riesigen bunten Werbeflächen am Schloßturm; aus deren Vermietungen an die Konzerne dieser Welt finanziert die Stadtverwaltung Restaurierungsarbeiten. Auf dem Weg zur Altstadt sieht man eine Vielzahl deutscher Häuser, bis man zum Hotel Bazar kommt, einem alten Treffpunkt polnischer Nationalisten.
Bis zum heutigen Tag wird architektonisch augenfällig, daß Posen eine geteilte Stadt war, daß zwischen Deutschen und Polen ein Nationalitätenkonflikt schwelte und daß die jüdische Minderheit auf der deutschen Seite stand. So wurde die Große Synagoge im protzigen Wilhelminischen Stil erbaut. Nach der Vertreibung und Ermordung der Posener Juden machte man aus ihr 1942 eine Schwimmhalle. Sie ist noch heute in Betrieb. Daß das Verschwinden des multikulturellen Charakters der Stadt keine »zwangsläufige« Entwicklung gewesen ist, beweist des Historikers Heinrich Schwendemann Information, daß Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts jede zehnte in Posen geschlossene Ehe eine deutsch-polnische war.
Wir machen noch einen Abstecher zur Brücke über die Warthe. Vieltürmig steht da die Kathedrale St. Peter und Paul, die die Gräber der beiden ersten polnischen Herrscher Mieszko I. und Boleslaw I. birgt. Ihre Gruft gilt als Wiege des polnischen Staates. Durch den Schloßbau wollte Wilhelm II. diesen Teil städtebaulich in den Hintergrund drängen. Folgerichtig ließ er denn auch die Einweihung (im August 1910) als Revanche für den 500. Jahrestag des polnischen Sieges über den Deutschen Ritterorden bei Tannenberg inszenieren.
Altstadt. Das Renaissancerathaus auf dem Markt ist ein Kleinod, es wirkt ungeachtet seiner Größe filigran. Restaurants laden zum Besuch. Von fern hallen mächtige Kirchenglocken. In dieser fast traulichen Umgebung hielt Heinrich Himmler am 6. Oktober 1943 seine berüchtigte Posener Rede (in vielen Veröffentlichungen liest man fälschlicherweise, sie sei im Schloß gehalten worden):
Der Satz: »Die Juden müssen ausgerottet werden« mit seinen wenigen Worten ist leicht ausgesprochen. Für den, der durchführen muß, was er fordert, ist es das Allerhärteste und Schwerste, was es gibt.
Für die Organisation, an die dieser Befehl erging, war es der schwerste, den wir bisher hatten. Ich glaube, ich kann sagen, er wurde ausgeführt, ohne daß unsere Männer und unsere Führer einen Schaden an Geist und Seele erlitten hätten.
Posen, Hauptstadt des »Warthegaus«, war das Laboratorium der Nazis für ihr rassistisches Programm – von der Vertreibung bis zur Euthanasie, von der Zwangsarbeit bis zu den Massenmorden, von der Ermordung europäischer Juden bis zum Feldzug gegen die katholische Kirche. Bereits seit Herbst 1939 wurde hier eine gewaltsame Umsiedlungspolitik praktiziert; Juden und Polen wurden vertrieben und ermordet; eine halbe Million »Volksdeutsche« aus dem Baltikum, Bessarabien und dem Balkan wurden hier angesiedelt; der katholischen Kirche galt ein Vernichtungsfeldzug, fast alle polnischen Pfarrer der Region wurden ermordet. Nach dem Krieg wurden die Altstadt wiedererrichtet und die deutschen Friedhöfe eingeebnet.
Nachts verwandelt sich der alte Markt zur bunten Amüsiermeile der Stadt und der umliegenden Dörfer. Wer jung ist und es sich leisten kann, bevölkert am Sonnabend die Cafés und Pubs, die Discotheken und Restaurants. Auf dem Platz und den Nebenstraßen stehen rauchend und trinkend die, die es sich nicht leisten können. Im Vergleich zu Berliner »Partymeilen« sieht man kaum Menschen über dreißig. Kasia, meine polnische Freundin, meint, die säßen vor dem Fernseher bei der Familie.

Im Ch. Links Verlag Berlin erschien 2003 das Buch »Hitlers Schloß« (34,80 Euro) von Heinrich Schwendemann (Text) und Wolfgang Dietsche (Fotos), das nicht nur die Geschichte der »Führerresidenz« erzählt, sondern eine Vielzahl der deutsch-polnischen Dramen in Posen.