Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 17. Januar 2005, Heft 2

Die Pflicht

von Hermann-Peter Eberlein

Seit einigen Jahren macht der kleine Wuppertaler Arco-Verlag mit seiner Bibliothek der böhmischen Länder auf sich aufmerksam. In ihr legt er verschollene Werke vergessener Autoren vor allem der Zwischenkriegszeit wieder vor: solcher, die zu Unrecht in der zweiten Reihe hinter den ganz Großen der deutsch-böhmischen Literatur wie Rilke, Kafka, Brod, Werfel oder auch Gustav Meyrink stehen. Bereits im Jahre 2002 ist ihm das mit der Neuedition von Walter Seidls zuerst 1936 erschienenem opus magnum Der Berg der Liebenden hervorragend gelungen, einem bezaubernden Liebesroman (Max Brod) über die lange gelingende, doch am Ende scheiternde Ménage à trois zwischen einem deutschen Studenten, seinem französischen Freund und dessen junger Frau, zugleich einer Liebeserklärung an Frankreich, an den Wein, an Prag, an die Musik. Und nun Die Pflicht von Ludwig Winder. Hier weht ein anderer Wind. War Seidls Buch eine zugleich zarte wie melancholische, an Romain Rollands Jean-Christophe erinnernde letzte humanistisch-künstlerische Vision dessen, was aus dem alten Europa ohne die nationalistischen Exzesse der Jahrhundertmitte hätte werden können, so ergreift uns in Winders Roman von 1943 das kalte Grauen eines Lebens unter den Bedingungen des blanken Terrors, in dem Züge von Humanität nur noch im Angesicht des Todes aufkeimen können. Im Mittelpunkt steht der kleine tschechische Eisenbahnbeamte Josef Rada, der sein Leben lang der Pflicht gegen seine Familie und seine Vorgesetzten gelebt hat und der nun, nach der deutschen Okkupation, unter heftigen inneren Qualen erkennen muß, daß die Umstände kein privates Glück mehr zulassen und nur noch die klare Entscheidung zum Widerstand oder zur Kollaboration gefordert ist. Als er sich nach der Verhaftung des einzigen Sohnes entschließt, sein und seiner Familie Schicksal hintanzustellen gegen die Pflicht zum Widerstand, öffnen sich ihm die Augen für die anderen, »die seit langer Zeit leiden mußten wie er«, deren Leid er aber bisher über seinem eigenen Unglück verdrängt hat. Damit fühlt er »zum ersten Male, daß diese Menschen … seine Brüder und Schwestern« sind, und ihr Anblick verleiht ihm Kraft bis ins Sterben. So ist das Buch – geschrieben kurz nach dem Massaker in Lidice – eine einzige leidenschaftliche Parteinahme für den Untergrundkampf; läßt aber zugleich die Frage nach den Grenzen des im Widerstand Erlaubten offen.
In einem breit angelegten Nachwort führt der Herausgeber Christoph Haacker kenntnisreich in Leben und Werk des 1946 im englischen Exil verstorbenen Winder ein, dessen literarischer Rang als europäischer Autor (immerhin wurde er einst sogar als Nachfolger Kafkas apostrophiert) trotz mancher Neuedition oder Publikation aus dem Nachlaß immer noch verkannt wird. Ein besonderes Augenmerk legt Haacker dabei auf die schwierige Situation speziell des deutsch-jüdischen Schriftstellers in der Tschechoslowakei. Wie sehr der Künstler der selbstgestellten Pflicht, »in einem barbarischen Jahrhundert … die vergessene Würde des Menschen, die Würde des Geistes, beharrlich zu verteidigen« politisch konkret obliegt, beweisen seine Äußerungen zur Aufgabe eines deutschböhmischen Schriftstellers: »Die deutschen antifaschistischen Schriftsteller von heute und morgen müssen ihre innige Verbundenheit mit den slawischen Völkern der Tschechoslowakei vertiefen und in ihrem Schaffen dokumentieren.« Denn namentlich sie »wissen, daß die Deutschen der Republik nur im brüderlichen Zusammenleben mit den Tschechen und Slowaken eine Lebensform finden können, die Bestand verspricht«. Eine Chance, die die Deutschen in der Tschechoslowakei durch ihre ganz überwiegend nazifreundliche Haltung leider für immer verspielt haben …

Ludwig Winder: Die Pflicht; Arco-Verlag Wuppertal 2003, 208 Seiten, 22 Euro; Walter Seidl: Der Berg der Liebenden. Erlebnisse eines jungen Deutschen, Arco-Verlag Wuppertal 2002, 408 Seiten, 28 Euro