Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 3. Januar 2005, Heft 1

Der Boß ist verrückt geworden

von Uri Avnery, Tel Aviv

Wenn die Obstverkäufer am Tel Aviver Markt schreien: »Der Boß ist verrückt geworden!«, dann bedeutet dies, daß sie ihre Waren zu lächerlichen Preisen verkaufen. In den Hauptstädten der Welt wird jetzt ein ähnlicher Ruf laut: »Der Boß ist verrückt geworden!«; aber es geht nicht um den Preis von Tomaten. Er weist auf die neue Situation nach der Wiederwahl von George Bush für weitere vier Jahre hin.
An vielen Orten wird Bush wie ein verrückter Cowboy angesehen, der in die Stadt reitet und dort um sich schießt. Er hat Afghanistan angegriffen. Er hat den Irak angegriffen. Seine neokonservativen Betreuer wollen als nächstes Syrien und den Iran angreifen. Sie wollen überall unterwürfige Regierungen einrichten (die »die Demokratie im Nahen Osten fördern«), auf Dauer amerikanische Garnisonen stationieren, den Weltmarkt des Erdöls beherrschen und last but not least Ariel Sharons Pläne unterstützen. Jetzt, in seiner zweite Amtsperiode, kann Bush ziemlich alles tun, was ihm gefällt.
Die Führer im Nahen Osten haben mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Schlußfolgerungen gezogen. Jeder eilte zu seiner nächsten politischen Höhle in Deckung, bis die Gefahr vorüber ist. Der syrische Bashar Assad begann beim Klang von hundert Engelsfanfaren eine Friedensoffensive. Der ägyptische Präsident Hosni Mubarak hat plötzlich seinen längst verloren geglaubten Bruder Sharon, einen Friedensmann, wiedergefunden. Er stellt sich selbst als Bushs Vizekönig im Nahen Osten dar.  Der jordanische Regent König Abdullah II. gibt ähnliche Töne von sich (nachdem er die Gelegenheit wahrnahm, die Flügel seines jüngeren Bruders zu beschneiden). Die Herrscher des Irans, die hartnäckigen Ayatollahs, führten einen eiligen Rückzug aus und stimmten zu, das nukleare Programm aufzugeben. Und die Palästinenser einigten sich hinter Abu Mazen, der von Präsident Bush bevorzugt wird.
Die Winde der Hoffnung blasen durch die Region. Diplomaten aus aller Welt stellen sich plötzlich ein, sie hoffen, sie könnten sich zu erwartende Erfolge zunutze machen, wie Bienen, die sich auf sich öffnende Blüten setzen. Internationale Kommentatoren, die eine unheimliche Gabe haben, die Vergangenheit vorauszusehen, reden über den nahöstlichen Frühling. (Dies ist übrigens eine falsche geographische Auffassung. Der Frühling ist in Europa ein Symbol für Hoffnung, wo die Natur nach Kälte und einem harten Winter aufwacht. In unserer Region ist der Herbst das Symbol der Hoffnung, wenn die Natur nach dem heißen und trockenen Sommer wieder erwacht.)
Haben all diese Hoffnungen irgendeine Substanz?
Man kann zum Beispiel die syrische Hoffnung überprüfen. Assad jun. schlägt Verhandlungen ohne Vorbedingungen vor, ein verführerisches Angebot. Wird Sharon es annehmen? Einmal wandte ich mich in einer politischen Debatte in der Knesseth an die Ministerpräsidentin Golda Meir: »Mir scheint, daß Sie sich vor einer schicksalhaften Entscheidung befinden, ob man die Westbank König Hussein nicht zurückgeben oder den Palästinensern nicht zurückgeben sollte.« Sharon ist heute mit einem ähnlichen Dilemma konfrontiert: Was solle zuerst getan werden: den Golan nicht an die Syrer oder die Westbank nicht an die Palästinenser zurückzugeben? Wie sein Vorgänger Ehud Barak denkt Sharon nicht im Traum daran, den Golan zurückzugeben. Selbst wenn er dazu bereitgewesen wäre (und er ist es nicht), würde er es nicht wagen, eine Evakuierung von Dutzenden von Siedlungen vorzuschlagen.
In seiner Autobiographie erzählt Bill Clinton, was beim letzten Mal geschah, als der syrisch-israelische Frieden auf der Agenda stand. Ehud Barak, der damalige Ministerpräsident, forderte Clinton auf, eine syrisch-israelische Konferenz einzuberufen. Clinton, der eifrig darum bemüht war, internationale Erfolge zu sammeln, stimmte dem bereitwillig zu. Er war angenehm überrascht, als Assad sen. alle früheren Forderungen aufgab (zum Beispiel: »seine Füße im See Genezareth baumeln zu lassen«), und allen israelischen Forderungen zustimmte. Im allerletzten Augenblick, als alles zum Unterzeichnen fertig war, sagte Barak zu Clinton, er habe sich nun entschieden, die ganze Sache rückgängig zu machen.
Jetzt gibt es keinen Clinton, und Sharon benötigt keinen Vorwand. Voller Verachtung bemerkte er, Assads Rede über Frieden sei nur unter dem Druck der USA zustandegekommen. (Na und? Wäre das nicht die perfekte Gelegenheit gewesen, einen Frieden zu erreichen?)
Sharon wies das syrische Angebot kurzerhand zurück. Assad bot Frieden ohne Vorbedingungen an. Gut, aber wir stellen Bedingungen: Zunächst muß er alle Führer der palästinensischen Organisationen aus Damaskus werfen und die Hisbollah im Libanon entwaffnen. Das heißt, er müsse jede der ihm noch verbliebenen Karten vor Beginn der Verhandlungen aus der Hand geben. Man muß schon ziemlich naiv sein, um zu glauben, Sharon werde dann auch nur eine einzige Siedlung aufgeben. Um so mehr, da Bush eine klare Order gegeben hat: Rede nicht mit den Syrern, mach es mir nicht zu schwer, sie anzugreifen, wenn ich mich dafür entschieden haben werde.
Deshalb konzentrieren sich alle Hoffnungen jetzt auf die palästinensische Front. Wenn demnächst Abu Mazen als Präsident der Palästinenser gewählt worden sein wird, werden dann die wirklichen Verhandlungen beginnen?
Es sieht nicht so aus. Sharon war damit einverstanden, am Wahltag die Armee aus den (palästinensischen) Städten zurückzuziehen – aber nicht vorher. Inzwischen geht Sharons Offensive unbarmherzig weiter. Täglich werden Palästinenser getötet, die systematischen Demütigungen an den Kontrollpunkten gehen weiter, der Bau der infamen Mauer wird fortgesetzt, Siedler reißen palästinensische Olivenbäume aus.
Es geht also nicht ernsthaft darum, ob es eine vorübergehende Lockerung von Einschränkungen geben wird – als freundliche Geste gegenüber Abu Mazen (und, was noch wichtiger wäre, gegenüber Bush), sondern ob Sharon bereit ist, über das Errichten eines wirklichen palästinensischen Staates mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt und über eine Rückkehr in etwa zur Grenze von vor 1967 aufrichtig zu verhandeln. Dafür gibt es aber keinerlei Anzeichen.
Es stimmt, Shimon Peres erklärt, er sei im Begriff, sich der Regierung anzuschließen, um den »Abzug« aus dem Gazastreifen zu erleichtern und um unmittelbar danach eine Lösung für die Westbank voranzubringen. Aber das sind alles leere Worte, um seine Gegner in der eigenen Partei zum Schweigen zu bringen. Schließlich hat er, als er in der vorherigen Regierung von Sharon als Minister diente, praktisch nichts für den Frieden getan. Wenn er jetzt zur Regierung zurückkriecht, weiß jeder, daß er dort bleiben will, egal was passiert – und daß er noch weniger erreichen wird.
In der neuen Regierung kann Sharon tun, was er will. Wenn er es wünscht, kann er den »Abzugsplan« erfüllen, wenn er will, kann er den größten Teil der Westbank annektieren. Ist der »Boß« verrückt geworden? Das letzte, was er tun würde, wäre, Druck auf Sharon auszuüben.