Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 17. Januar 2005, Heft 2

Chico Buarque

von Klaus Hart, Rio de Janeiro

Chico Buarque gilt als der größte, genialste Songpoet. Er wird wie ein Nationalheld verehrt, obwohl er schon längst keine Hitparaden mehr erstürmt. Im Kulturleben der größten lateinamerikanischen Nation ist er nach wie vor enorm präsent. Sein dritter Roman, Budapest, ist ein Bestseller, sein zweiter, Benjamin, als gleichnamige Verfilmung landesweit in den Kinos. Und seine Opera do Malandro, Gauneroper, ein spritziges, doch auch sozialkritisches Musical von 1978, läuft seit einem Jahr in Rio vor ausverkauftem Hause. Zu seinen Sambas schwoft die Nation in den Tanzdielen. Und selbst Lateinamerikas bestes Sinfonieorchester, dirigiert von John Neschling in São Paulo, hat Stücke im Repertoire.
»Chico Buarques Bedeutung für die brasilianische Kultur ist unschätzbar hoch«, betonte zum 60. Geburtstag des Künstlers Kulturminister Gilberto Gil, »er war für mich fundamental – für meine musikalische Entwicklung, meine Geschmacksbildung, er hat den Wettbewerb unter uns Künstlern immer in einer sehr gesunden Weise stimuliert.«
Chico Buarque wurde 1944 in Rio geboren, wuchs aber in São Paulo und Italien auf, brach wegen der Musik ein Architekturstudium ab, stand 1964 – dem Jahr des Militärputsches – erstmals als Musiker auf der Bühne, hatte 1966 mit dem poetischen Lied A Banda (Die Kapelle) seinen nationalen und internationalen Durchbruch. In Deutschland wurde daraus ein Schlager mit Latino-Klischee, ein Karnevalsmarsch über eine Mexikanerin namens Rosita, »mit Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen«. Er konnte sich auch nicht dagegen wehren, daß das Diktaturregime A Banda im Fernsehen zur Rekrutenwerbung benutzte. Sein Vater war ein landesweit bekannter linker Intellektueller, Gründer der Arbeiterpartei PT, deren Führung erst in den vergangenen Jahren nach rechts abdriftete und sozialdemokratisch wurde.
1969 ging Chico Buarque für zwei Jahre ins Exil nach Italien, sein Apesar de voce wurde nach seiner Rückkehr zur Anti-Diktatur-Hymne. Mit Gilberto Gil schrieb er das Protestlied Càlice, das prompt verboten wurde. Gil und Buarque versuchten 1973 dennoch, es bei einem Konzert zu singen, doch die deutsche Polygram, so ist überliefert, ließ hektisch die Mikrophone ausschalten, befürchtete Repressalien des Regimes.
Chico Buarque war der meistverbotene, meistzensierte Künstler Brasiliens, bis heute eine Symbolfigur des Widerstands gegen die einundzwanzig Jahre währende Militärdiktatur. Er trickste die Zensoren eine Weile lang aus, indem er sich hinter der Figur des von ihm erfundenen Julinho da Adelaide versteckte, der sogar Zeitungsinterviews gab, mit Fotos erschien, Chico Buarque schlechtmachte. Was Julinho da Adelaide an Doppelsinnigem einreichte, ließen die Aufpasser durchgehen. Wurde Chico Buarque trotzdem verhaftet, baten ihn die Beamten der politischen Polizei um Autogramme. Er organisierte den Kulturaustausch mit Kuba, nannte den Inselstaat ein Beispiel, das Brasilien nicht kopieren, dem es aber folgen sollte, hatte hohe Wertschätzung für Fidel Castro. Nach dem Ende der Diktatur beteiligte er sich an der Anti-Hunger-Kampagne und an Aktionen der Landlosenbewegung.
Als er sechzig wurde, würdigen die Kritiker Chico Buarque auch als Symbol kulturellen Widerstands bis in unsere Tage – gegen die Korruption im Musikbusiness, die Überschwemmung des Marktes mit Wegwerf-Pop, gegen allgemeine kulturelle Verflachung, kurzlebige, künstliche Trends und Moden. Denen hat sich Chico Buarque schon immer verwehrt. Ein interessantes Detail: In den sechziger Jahren buhten ihn die Fans von Gilberto Gil und Caetano Veloso bei Musikfestivals aus, schrien ihm in Sprechchören entgegen, daß er völlig überholt, out sei, weil er immer noch Sambas spiele. Während Gil und Veloso bereits die Rockgitarre schwangen, sich anglo-amerikanischen Trends anpaßten. Einen Sprechchor gegen Chico Buarque dirigierte Gilberto Gil damals sogar persönlich. Der Sänger beobachtete es oben von der Bühne mit Verdruß, prangerte Gils Verhalten in einem Zeitungsartikel an. Jetzt, als Kulturminister, will Gilberto Gil den Samba als Musik und Tanz von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklären lassen. Die besten, intelligentesten Sambakompositionen Brasiliens, mit dem poetischsten Texten, auch die mit der ätzendsten Sozialkritik, dürften von Chico Buarque sein.
Ein brasilianisches Nachrichtenmagazin ließ durch eine Expertenjury und durch Umfragen den wichtigsten nationalen Musiker des gesamten 20. Jahrhunderts ermitteln – Chico Buarque liegt mit 76,5 Prozent sogar vor dem bereits verstorbenen Bossa-Nova-Miterfinder Tom Jobim (Girl from Ipanema) und deutlich vor dem 62jährigen Caetano Veloso, der auf 56,6 Prozent kommt. Der Perfektionist Chico Buarque hat ästhetische, stilistische Maßstäbe gesetzt – wer heute mit dessen CDs in die Musica Popular Brasileira einsteigt, erkennt mühelos, was dort wirklich etwas taugt und was man getrost vergessen kann. »Durch Chico Buarque bemerken wir unsere eigene Unvollkommenheit«, sagt Chico Cesar (Schöpfer des Hits Mama Africa), »immer wenn wir uns als die Größten fühlen, reicht es, an Chico Buarques Musik zu denken – und schon ist es mit unseren Eitelkeiten, intellektuell-moralischen Anwandlungen vorbei«.
Lieder mit drastischen, sinnlichen Bett-, überhaupt Liebesszenen – niemand hat davon so schöne im Repertoire wie Chico Buarque. Keiner habe die schwierigen, widersprüchlichen, komplexen Beziehungen zwischen Frau und Mann sensibler beschrieben, besungen als er, könne sich so in die weibliche Psyche hineindenken, hineinfühlen. Frauen würdigen ihn daher zum Sechzigsten am überschwenglichsten: »Welche Brasilianerin hat denn nicht geliebt und gelitten, sich von schwersten Enttäuschungen erholt – und dabei Lieder von Chico Buarque gehört und gesungen?« schreibt die Kulturkolumnistin Danuza Leao aus Rio. Eine Unzahl brasilianischer Sängerinnen nahm deshalb auch Chico-Buarque-Lieder auf, sogar ganze CDs, drängelt sich danach, Duette mit ihm herauszubringen. Bis kurz vor dem Geburtstag stand er noch im Studio. Entfleuchte danach gen Paris – denn Rummel um seine Person ertrug der eher schüchtern, scheu wirkende Frauenschwarm noch nie. Alle Feiern fanden ohne ihn statt, doch niemand nahm es ihm übel.